Anton Kaes: Shell Shock Cinema. Weimar Culture and the Wounds of War. Princeton und Oxford: Princeton University Press 2009, 312 Seiten, Abb.
ISBN 978-0-691-03136-1, $ 29,95
Siegfried Kracauers einst so wirkungsmächtiger These, an den Filmen der Jahre 1918 bis 1932 sei eine psychologische Disposition der Weimarer Gesellschaft zum Nationalsozialismus ablesbar, ist in der jüngeren Vergangenheit punktuell und prinzipiell, jedoch stets mit gleichmäßig zunehmender Vehemenz widersprochen worden. Konsens scheint mittlerweile zu sein, dass der Weg „von Caligari zu Hitler“, wenn er denn überhaupt eine sinnvolle heuristische Konstruktion darstellt, zumindest ein verschlungener ist, mit einer unübersehbaren Fülle von Weggabelungen und Sackgassen, die eine komplexere Logik der gesellschaftlichen Funktion des Mediums Film sowie eine breitere Auffächerung parallel existierender Geschichtsverläufe und Bezugsebenen suggerieren. Die Bemühungen um eine Neubetrachtung des Weimarer Kinos haben aber auch deutlich gemacht, dass es hinter die Interpretationen Kracauers kein zurück gibt: Gesteht man dem Film auch nur den Status eines gesellschaftlichen Leitmediums der sogenannten „Zwischenkriegszeit“ in Deutschland zu, bewegt man sich bereits auf einem Terrain, dessen chronologische Pole zugleich als Gravitationszentren gelten können, auf die hin jeder Deutungsversuch sich scheinbar zwangsläufig auslegen lassen muss.
Gegen die Herleitung von Kracauers These sind dabei vor allem zwei Einwände vorgebracht worden: Sie richten sich zum einen gegen die schmale Materialbasis und den in der Mehrzahl auf die bekannten Klassiker des Weimarer Kunst- und Autorenkinos verengten Korpus an in Betracht gezogenen Filmen; zum anderen gegen die perspektivische Verzerrung einer retrospektiven Teleologie, die auf die Filme der 1920er und frühen 1930er Jahre das „bessere“ – oder vielmehr: schlimme – Wissen des in den Jahren 1942-1946 in den USA an seiner Studie arbeitenden Exilanten um die schrecklichen Folgen der Machtübernahme Hitlers zurückprojizierte.
Hinsichtlich des zuletzt genannten Vorbehalts ist Anton Kaes’ Shell Shock Cinema die bislang wohl konsequenteste Antwort auf Kracauers Von Caligari zu Hitler. Es stellt das Weimarer Kino gewissermaßen wieder vom Kopf auf die Füße, indem es nicht die Vorboten Hitlers und damit die Vorzeichen von Holocaust und Zweitem Weltkrieg an ihm zu entziffern sucht, sondern die Auswirkungen des Ersten Weltkriegs, die, so die nur zu plausible Grundannahme, die Kultur der Weimarer Republik – und insbesondere die von ihr hervorgebrachten Filme – bis zu ihrem Ende maßgeblich geprägt haben. Im ersten Kapitel, das die Entwicklung der deutschen Filmindustrie in den Kriegs- und Vorkriegsjahren nachzeichnet, wird dieser Zusammenhang direkt hergestellt. Jedoch schon die beiden Filmbeispiele dieses Kapitels dienen vor allem der Markierung eines zentralen ästhetischen Manövers, durch das an die Stelle der Inszenierung des konkreten Kriegstraumas eines Frontsoldaten in Georg Jacobys DEM LICHT ENTGEGEN (1916/17) schon in Robert Reinerts NERVEN (1919) die „Kriegsneurose“ in thematisch variierter und filmisch abstrahierter Form als Chiffre einer gesamtgesellschaftlichen Zustandbeschreibung tritt: „Seen from this angle, war and revolution were symptoms of a larger malaise: a collective neurasthenia in response to belated but frenzied modernization and urbanization. The discourse on nerves also allowed the filmmaker to create a nexus between the battlefield and the home front. (…) In contrast to Jacoby’s propganda film TOWARD THE LIGHT, which focuses on the private fate of a shell-shocked soldier – from his near death in the trenches to his recovery – Reinert’s film dramatizes the extent to which the toxic effects of war and defeat have infected an entire culture.“ (S. 43)
Unter dieser Prämisse werden in den folgenden Kapiteln DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1919/20), NOSFERATU (1921/22), DIE NIBELUNGEN (1922-24) und METROPOLIS (1926/27) einer Re-Lektüre unterzogen, die auf unterschiedlich gelagerten Bezugsebenen den Spuren nachgeht, die das Kriegstrauma in den Filmen hinterlassen hat. Als historische Matrix hinter den Figurenkonflikten, der formalen Stilisierung und ambivalent verschachtelten Erzählform CALIGARIS etabliert Kaes das Verhältnis zwischen traumatisierten Frontsoldaten und ihren (Militär-)Psychiatern, deren zuweilen menschenverachtende Behandlungsmethoden durch Hypnose und Elektroschocks seinerzeit nicht nur gesellschaftlich umstritten waren, sondern auch ihren Teil beitrugen zur Auflösung stabiler Muster des Selbstbezugs und einer subjektiv abgesicherten Weltwahrnehmung: „By extending the concept of shell shock to the cinematic medium itself, and thereby exploding its visual grammar and narrative syntax, CALIGARI preserves the liminal experience of the front more authentically than any naturalistic depiction of war and its human consequences.“ (S. 86) Lässt diese zeithistorische Matrix hinter Dr. Caligari den mächtigen Schatten des französischen Nervenarztes Dr. Charcot erscheinen, so deutet erst der ihr inhärente gesellschaftliche Sprengstoff auf eine Querverbindung zu Hitler: Der hatte, wie Kaes anführt, just zwei Tage vor der Premiere des Films seinen ersten größeren politischen Auftritt in einer Münchner Bierstube – und seine Rassentheorie dabei als Konsequenz von Fronterfahrung und Kriegstrauma abgeleitet: „Both the film and the platform of the National Socialists could be viewed, then, as commentaries on the mistrust and paranoia that characterized the early years of the Weimar Republic. However, in contrast to the Nazis, who constructed ‚outsiders’ (i.e., non-Aryan Others) as the cause of Germany’s problems, the film seems instead to point inward.“ (S. 80)
An Murnaus NOSFERATU ist bereits verschiedentlich hervorgehoben worden, dass die Bilder vom Massensterben in Wisborg, Hutters Auszug aus der Heimat und seine Begegnung mit dem Vampir wie auch Ellens Bangen um ihren abwesenden Verlobten deutliche Konnotationen an die jüngere Vergangenheit des Weltkriegs tragen. Kaes’ Interpretation nimmt diese Ansätze auf und überführt sie in eine umfassende Deutung des Films als ins Fantastische verschobene Verarbeitung nicht nur der traumatisierenden Kriegserfahrung der sogenannten „verlorenen Frontgeneration“ junger Männer, sondern auch der komplementär an der „Heimatfront“ erfolgten Hysterisierung weiblicher Angehöriger dieser Generation: „It is revealing that the film takes recourse to the vampire lore to narrate the war experience; for Murnau, the vampire’s need for blood and his ruthless victimization of innocence connotes the nature of war. In NOSFERATU Hutter’s story parallels that of a soldier from a lost generation, while his equally traumatized wife, Ellen, embodies the home front living in fear and gripped by a death wish.“ (S. 88) Noch in der freiwilligen Selbstpreisgabe Ellens an den Vampir zum Wohle der Gemeinschaft nimmt der Film (abweichend von Bram Stokers Romanvorlage) am Ende den aus der Weltkriegspropaganda allzu bekannten Topos des auch von der Zivilbevölkerung zu erbringenden, sinnstiftenden Opfers wieder auf, sublimiert als erotisch-okkultistisch aufgeladene Variation einer typisch melodramatischen Wendung.
Wie in NOSFERATU geht es Kaes zufolge auch in Fritz Langs DIE NIBELUNGEN um die symbolische Verklärung einer als traumatisch erfahrenen nationalen Vergangenheit. Schon in seiner Zueignung an das „deutsche Volk“, die Kaes zur 1916 am Reichstag angebrachten in Beziehung setzt, offeriere das Filmepos den Deutschen eine Gedächtnisstütze, die sie an ihre im Krieg verlorene heroische Geschichte erinnerte. Das vom Film vermittelte Heldenbild Siegfrieds macht Kaes zum Angelpunkt seiner Neubetrachtung des Films, der den Krieg noch einmal in den Rang des ultimativen nationalen Mythos erhebe. Siegfrieds Stilisierung zur Ikone der Weimarer Körperkultur im ersten und zum Sinnbild des Opferkults im zweiten Teil der NIBELUNGEN formt für Kaes die semantische und ideologische Klammer des gesamten Projekts, ohne dass vor allem der zweite Teil damit zugleich um seine kennzeichnende Mehrdeutigkeit gebracht ist: Zurecht weist Kaes auf die Ambivalenz der Hagen-Figur hin wie auch insgesamt auf die Divergenz der vom Film eröffneten Perspektiven auf den Krieg. Die nicht zuletzt von der epischen Erzählform geschaffene Distanz zum Geschehen problematisiere zunehmend eine Sichtweise, die den „unbekannten Soldaten“ in der Figur Siegfrieds als mythischen Helden verherrlicht, und untergrabe sie durch die Einsicht in das unvermeidlich selbstzerstörerische Potenzial des (nationalistischen) Rache- und Treueprinzips.
Am weitesten gesteckt ist der Rahmen zwischen Weltkrieg und Filmbeispiel bei METROPOLIS und dies nicht nur mit Blick auf den zeitlichen Abstand. Auch argumentativ lassen sich historisches Ereignis und filmische Zukunftsvision lediglich noch in der Fluchtlinie der allgemeinen Konsequenzen industrieller Modernisierung miteinander engführen: „METROPOLIS argues that the reification and abstraction characteristic of modern mass production result in apocalyptic destruction. Lang thus places the origin and legacy of the war entirely in the machine-controlled industrial zone. In this way the wounds of war were only consequences of a larger malaise of modernity. Lang reconfigures the trauma of the lost war as a desperate revolt of German idealism against the onslaught of the industrial age.“ (S. 168) Spätestens an dieser Stelle, deutlicher jedenfalls als in den vorhergehenden Kapiteln, stellt sich die Frage, wie tragfähig bzw. produktiv die Auslegung der Filme auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs als Erklärungsmodell am Ende ist. Oder anders gesagt, ob der Rückbezug der vielfältigen thematischen und formalen Dimensionen der Filmbeispiele auf das gesellschaftliche Trauma der Weltkriegserfahrung die Logik des historischen Prozesses und den movens der in den Filmen vorhandenen ästhetischen Verfahren nicht unzulässig verkürzt.
Obgleich der Nachweis eines geschichtlichen Bedingungsverhältnisses im Falle von METROPOLIS nicht in gleichem Maße zu überzeugen vermag wie bei CALIGARI, NOSFERATU oder DIE NIBELUNGEN, entgeht Kaes dem an diesem Punkte lauernden Vorwurf einer monokausalen Geschichtslogik doch dadurch, dass er das historische Kriegstrauma gewissermaßen als heuristisches Prisma einsetzt, um die kulturellen und gesellschaftlichen Auswirkungen der technischen Modernisierung und der modernistischen Ästhetik nicht zu absorbieren, sondern in vielgestaltigen Brechungen sichtbar bzw. auf analytisch-diskursiver Ebene erst beschreibbar zu machen. Ein ums andere Mal besticht das Buch in dieser Hinsicht durch die Vielfalt und Prägnanz der Verweise auf relevantes Kontextmaterial – literarische Texte, populärkulturelle Phänomene, gesellschafts- und geistesgeschichtliche Debatten –, mit deren Hilfe die Filmanalysen in ihr historisches Bezugssystem eingebettet und die Interpretationen im Einzelnen motiviert und fundiert werden. Zur stupenden Kenntnis der Weimarer Kultur und dem souveränen Umgang mit nicht-filmischen Quellen treten als weitere hervorstechende Vorzüge des Buches eine durchgehend hohe sprachliche Eleganz sowie der wohltuend unaufgeregte und anspielungsreiche Duktus, in dem die Filminterpretationen im Einzelnen vorgenommen und die übergreifenden Thesen formuliert werden. Diese Gelassenheit nicht zuletzt im Umgang mit wissenschaftlichen Gegenpositionen dürfte auf dem seit Kracauer so heftig und leidenschaftlich umkämpften Forschungsfeld des Weimarer Kinos ihresgleichen suchen. Das wird Kaes’ Buch allerdings nicht davor bewahren, dass ihm die Konzentration auf vier der bekanntesten Klassiker als nicht repräsentativer Korpus noch energischer vorgehalten werden wird, als dies bereits bei Kracauers Von Caligari zu Hitler geschehen ist. Gerade im Lichte bzw. im Schatten von Kracauers Buch macht diese Entscheidung aber Sinn: Erweist sich an ihr doch erst vollends die Stichhaltigkeit des von Kaes vorgeschlagenen Paradigmenwechsels. Das im Anhang zu findende umfangreiche Verzeichnis von auf DVD erhältlichen Filmen der Weimarer Zeit ist somit auch als Aufforderung an die zukünftige Forschung zu verstehen, diesen Blickwechsel auf das Weimarer Kino an weiteren Beispielen nachzuvollziehen. (Michael Wedel)
Michael Wedel ist Professor für Mediengeschichte an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Mitglied von CineGraph-Babelsberg und Redakteur von Filmblatt. Demnächst erscheint Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den deutschen Film (Bielefeld 2010).
Filmblatt 43 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 3.11.2010
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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