Ralf Schenk (Hg.): Worte/Widerworte. Volker Baer: Texte zum Film 1958-2007. Marburg: Schüren 2009, 310 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-89472-667-6, € 24,90
In den letzten Jahren lässt sich wieder ein wachsendes filmhistorisches Interesse am Tagesgeschäft der Filmkritik beobachten. Unter dem Titel Worte/Widerworte hat Ralf Schenk nun Texte aus fast 50 Jahren ausgewählt, die der Filmkritiker Volker Baer für die Hannoversche Allgemeine und die Nürnberger Nachrichten, vor allem aber den Berliner Tagesspiegel geschrieben hat. Sie werden eingeführt durch ein Gespräch zwischen Autor und Herausgeber, das die beruflichen Stationen Baers nennt, die Schwerpunkte seiner filmkritischen Arbeit herausarbeitet und seine Entwicklung an die Zeitgeschichte rückbindet. Baers Kritiken sind mit der Berliner Film- und Kinogeschichte ihrer Entstehungsjahre eng verbunden; oft genug liegt ihnen der Blick über die Mauer auf DEFA-Produktionen und die Filmproduktion der Sowjetunion oder der Tschechoslowakei näher als eingehende Auseinandersetzungen mit den auteurs des Neuen Deutschen Films.
Baer hat sich immer kontinuierlich mit all dem beschäftigt, was den Kinobetrieb, die Filmproduktion und nicht zuletzt die Filmwirtschaft am Laufen hält. Neben Filmkritiken finden sich daher viele gut informierte Berichte über deutsche Filmpolitik, Archive, Festivals und Institutionen der Filmpflege. Dies ist aus heutiger Sicht ein glücklicher Umstand, weil gerade in die frühen Jahre von Baers Arbeit die Gründung zahlreicher wichtiger Institutionen fällt, unter anderem die Deutsche Kinemathek (1963), die Freunde der Deutschen Kinemathek e.V. (ebenfalls 1963) und die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb, 1966). Wer Baers Artikel über die Vorbereitung eines Kinemathekenverbunds aus dem Jahr 1978 liest, bekommt ein Gespür für die organisatorische Leistung, ganz verschiedene gewachsene Strukturen der Filmarchive miteinander zu verbinden. Darüber hinaus erhält man einen Einblick in die Finanzierungsstruktur der beteiligten Institutionen.
Auch in seinen Texten zur Filmförderung und dem Aufbau der Berliner Filmfestspiele liefert Baer Zahlenmaterial und andere Informationen, die sonst in mühseliger, kleinteiliger Recherche zusammengetragen werden müssten. Ähnliches gilt für die anderen im Band dokumentierten Felder. Baers Reaktionen auf die apologetischen Publikationen von Regisseuren wie Veit Harlan, Fritz Hippler und Arthur Maria Rabenalt sind aufschlussreiche Einschätzungen zum Nachwirken der NS-Filmschaffenden nach 1945. Dem Versuch dieser und anderer, die politische Bedeutung des eigenen Tuns nach dem Ende des Nationalsozialismus herunterzuspielen, setzt Baer das Beharren auf eine kritische Auseinandersetzung mit den Filmen und ihren Machern entgegen. Gleiches gilt für mehrere Texte über den Umgang mit Filmen wie JUD SÜSS (1940) oder den Streit um die Rechte an den Filmen Leni Riefenstahls. Die Texte, die sich diesem Themenfeld widmen, gehören zu den engagiertesten des Bandes.
Schon seit den frühen 1960er Jahren interessierte sich Baer für den Film jenseits des Eisernen Vorhangs. Unvoreingenommen berichtete er über die erste sowjetische Filmwoche in West-Berlin und versuchte, so gut es von West-Berlin aus in dieser Zeit ging, seine Leser über die Entwicklungen bei der DEFA auf dem Laufenden zu halten. Die Stärke seiner Texte liegt auch hier in der Aufmerksamkeit, die er strukturellen Bedingungen widmet: Nicht zufällig greift er seine Überlegungen zum Gesamtberliner Kulturplan, der Ostberlinern für einige Zeit beim Kauf einer Kinokarte einen besseren Wechselkurs bot, 1989 wieder auf. Baers Perspektive auf das Kinopublikum erschöpft sich nicht in Besucherzahlen, sondern nimmt auch die Bedingungen des Kinobesuchs in den Blick, wenn er etwa darauf hinweist, dass die Förderung der Kinotickets durch den Gesamtberliner Kulturplan auf Filme mit den Prädikaten „wertvoll“ und „besonders wertvoll“ beschränkt war – was dazu führte, dass in Berlin der Anteil von Filmen mit Prädikat etwa fünfmal höher lag als in Westdeutschland.
Ralf Schenks Edition unterstreicht den Quellenwert, den die Filmkritik für die film- und kinogeschichtliche Forschung besitzen kann. Im vorliegenden Fall hängt dieser Quellenwert vor allem mit Baers Berücksichtigung der filmwirtschaftlichen Strukturen zusammen. Seine Texte liefern oft auch Zahlenmaterial, das anderweitig schwer zugänglich ist; das reicht von den Summen die jährlich zur Filmförderung zur Verfügung stehen bis zu den verschlungenen Wegen, auf denen eine Filmförderung aus West-Deutschland für ostdeutsche Film möglich wurde.
Dass sich Baers Texte trotz aller kenntnisreichen Dichte angenehm lesen, verdanken sie ihrer anschaulichen Sprache, und diese verdankt sich wohl nicht zuletzt Baers eigener Neugier. Das wird vor allem an jenen Texten deutlich, in denen unter der nüchternen Oberfläche Engagement erkennbar wird, wie in Baers interessiert-engagierter Besprechung von Sohrab Shahid Saless’ REIFEZEIT (1975); und während der Blick in die Kritiken bei der Erforschung historischer Rezeptionen oft nur ein erster Schritt ist, liefern Baers Texte Hintergrundwissen zum Verhältnis von Film- und Zeitgeschichte. Es wäre daher wünschenswert gewesen, die Texte nicht nur durch ein Personen- und Filmregister, sondern auch durch ein thematisch-zeitgeschichtliches Register zu erschließen. Aber auch so ist Worte/Widerworte ein spannender Ausflug in die neuere Filmgeschichte. (Fabian Tietke)
Fabian Tietke ist Mitarbeiter des Zeughauskinos in Berlin und kuratiert mit der Gruppe The Canine Condition Filmreihen. Er studiert Geschichte und Philosophie an der Humboldt Universität zu Berlin und ist Mitglied von CineGraph Babelsberg. Eine Magisterarbeit zu italienischen Filmklubs der 1950er und 1960er Jahre ist in Vorbereitung. Sein filmhistorisches Interesse gilt Film und sozialen Bewegungen, der italienischen und nordafrikanischen Filmgeschichte.
Filmblatt 44 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 12.5.2011
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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