VON MORGENS BIS MITTERNACHTS (1920). Edition Filmmuseum 55. DVD mit Booklet (20 Seiten). Regionalcode 0, PAL, 73’, deutsche, englische, französische, spanische Zwischentitel.
München: Edition Filmmuseum 2010, € 19,95
Der expressionistische Film VON MORGENS BIS MITTERNACHTS (1920) erzählt von einem Bankangestellten, der aus seiner tristen Existenz ausbrechen will, Geld entwendet und verprasst und sich schließlich vollkommen desillusioniert das Leben nimmt. Nach einer einzigen Pressevorführung im Jahr 1922 verschwand der Film von der Bildfläche und galt als verschollen, bis Jahrzehnte später eine Kopie in Japan auftauchte. Nun macht die Edition Filmmuseum dieses Schmuckstück erstmals auf DVD zugänglich und zwar in einer unter der Leitung von Enno Patalas am Münchner Filmmuseum akribisch rekonstruierten Fassung, bei der die zuvor fehlenden deutschen Zwischentitel neu eingefügt wurden. Die DVD bietet außerdem Zwischentitel in Englisch, Französisch und Spanisch sowie zwei moderne Musikbegleitungen von Yati Durant und dem SchlagEnsemble H/F/M, welche die avantgardistischen Züge des Films noch unterstreichen. Kurze Artikel mit Hintergrundinformationen und filmhistorischen Recherchen sind im Booklet zur DVD enthalten: Inge Degenhardt zeichnet dort die merkwürdige Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte des Films nach und Fritz Göttler seine Beziehung zur lost generation der Nachkriegszeit. Jürgen Kasten beleuchtet das graphische Prinzip des Dekors, und Francis Courtade diskutiert den Stellenwert des Films als Manifest des deutschen Kino-Expressionismus.
Für die Forschung interessant ist VON MORGENS BIS MITTERNACHTS sowohl als Adaption des gleichnamigen, für das expressionistische Theater wegweisenden Stückes von Georg Kaiser aus dem Jahr 1912 wie als frühes Beispiel des Weimarer Straßenfilms. Vor allem aber verdienen die Sets des Bühnenmalers Robert Neppach Beachtung, deren flächige Zweidimensionalität sich abhebt von der Dreidimensionalität von DAS CABINET DES DR. CALIGARI (1920). Deutlich wird hier eine ganz ungewöhnliche Behandlung des Raumes und eines Radikalisierung der expressionistischen mise en scène, wie Jürgen Kasten schreibt: Ihm zufolge sind Schauspiel, Kameraarbeit und Beleuchtung sowie Kostüme und Make-up allesamt eng aufeinander bezogen und integriert in das grafisch gestaltete Dekor, was zu einer übergreifenden stilistischen Kohärenz des Film führe.
Womöglich wird aus dieser Perspektive der Stellenwert der innovativen Kameraarbeit von Carl Hoffmann übersehen, der damals bereits mehr als 80 Filme fotografiert hatte. Zu seinen Spezialitäten gehörten fantastische Effekte mithilfe von Trickaufnahmen, wie er sie 1916 für die HOMUNCULUS-Serie entwickelte. Eines seiner Markenzeichen in VON MORGENS BIS MITTERNACHTS sind die Überblendungen, die sich wie ein Grundmotiv durch den Film ziehen und das halluzinatorische Moment in der Selbstwahrnehmung des Protagonisten vermitteln. In einer Szene begegnet dieser in einem Hotel einer Dame, die er sich – ausgelöst durch die Betrachtung eines Akt-Gemäldes – zunächst unbekleidet vorstellt. Diese erotische Fantasie ist gerahmt durch Überblendungen in einer Sequenz von Point-of-View-Einstellungen. (Die Abbildungen zu dieser Szene im Booklet stehen leider nicht in der ganz korrekten Reihenfolge, wodurch die Chronologie der Ereignisse durcheinander gerät und die Bedeutung des Gemäldes missverständlich wird.) Wie hier ist es durchgehend die Wahrnehmung des Protagonisten, die die Ereignisse in Gang setzt und antreibt. Er erscheint so als der prototypische expressionistische Held, dessen subjektive Sicht durch raffinierte Kameraarbeit und Schnitttechnik ins Bild gesetzt wird.
Für den Theaterregisseur Karlheinz Martin war VON MORGENS BIS MITTERNACHTS die erste Arbeit fürs Kino, in der sich beispielhaft die Chancen und Risiken eines transmedialen Austauschs zeigten. Anscheinend stand Neppachs Setdesign einer kommerziellen Auswertung des Films im Wege, weil man dem Spielfilmpublikum nur eine begrenzte Toleranz gegenüber Abstraktion zutraute. Tatsächlich minderte das Setdesign auch die Wirkung von Hoffmanns Kameraarbeit, die sich ganz auf die visionäre Selbstwahrnehmung des Protagonisten konzentrierte. Hoffmann selbst dürfte diese Diskrepanz gespürt haben, glaubte er doch an das Primat der Kamera und daran, dass die Wucht eines Bildes vom Objektiv auszugehen habe und die Dekoration gleichsam dem Objektiv „entgegengebogen“ werden müsse. Während Hoffmanns Kameraarbeit den Zuschauer in den Film einbinden und sein Erleben intensivieren wollte, wurde genau das durch das zweidimensionale, von Kritikern und Filmhistorikern als Höchstmaß expressionistischer Stilisierung gelobte Dekor verhindert. Am Ende ist es dieser Widerspruch zwischen Kameraarbeit und Setdesign, zwischen Einbindung und Distanzierung, der VON MORGENS BIS MITTERNACHTS prägt und den experimentellen Charakter des Films vor Augen führt. (Cynthia Walk) (aus dem Englischen von Philipp Stiasny)
Cynthia Walk ist emeritierte Associate Professorin für German Studies an der University of California in San Diego (USA). Publikationen zum Weimarer Kino, u.a. „Cross-Media Exchange in Weimar Culture: VON MORGENS BIS MITTERNACHTS“ (In: Monatshefte 99,2, Sommer 2007) und „Romeo with Sidelocks: Jewish-Gentile Romance in E.A. Dupont’s DAS ALTE GESETZ (1923) and Other Early Weimar Assimilation Films“ (In: The Many Faces of Weimar Cinema, hg. von Christian Rogowski, Rochester 2010).
Filmblatt 45 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 10.9.2011
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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