Christopher Balme, Fabienne Liptay, Miriam Drewes (Hg.): Die Passion des Künstlers. Kreativität und Krise im Film. München: edition text + kritik 2011 (Michael Grisko)
ISBN 978-3-86916-089-4, € 39,80
Filme über Künstler und den künstlerischen Schaffensprozess gibt es seit der Erfindung des Mediums, wie der vorliegende Band zeigt, der eine interdisziplinäre Vortragsreihe des Fachbereichs Kunstwissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München dokumentiert. Er konzentriert sich auf den fiktionalen Film nach 1945, insbesondere auf außerhalb von Deutschland entstandene Arbeiten. Der Aufsatz von Verena Krieger über den Dokumentarfilm KIPPENBERGER, DER FILM (2005) bildet eine Ausnahme.
Als Subgenre des biografischen Films verarbeitet der Künstlerfilm auch Elemente des Melodrams und anderer Genres, was die Möglichkeiten seiner Vermarktung verbessert und den gelegentlichen Mangel an Faktentreue erklärt. Da Künstlerfilme, die sich auf reale Vorbilder beziehen, mittlerweile auch als Teil der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte begriffen und auf eingeschriebene Zeitspuren oder Spiegelungen anderer am Herstellungsprozess des Films beteiligter Personen (z.B. des Regisseurs) untersucht werden können, stellt sich immer wieder auch die Frage nach den Konzeptualisierungen von Künstlerbildern zwischen Krise und Kreativität, aber auch nach den Materialisierungen der Kunst im Film. Dabei spielen hier vor allem die Verwendung und Integration von Musik, die Übertragung künstlerischer Techniken etwa im Set Design und der Umgang mit literarischen und anderen Texten eine wichtige Rolle. Wichtige Fragen betreffen auch den Bekanntheitsgrad des Protagonisten im regionalen, nationalen und internationalen Kontext, weil er die Dimensionen eines möglichen Publikumserfolges vorwegnimmt. Was den Fiktionalitätsgrad der Erzählung angeht, so variiert er ebenso wie die Materialität des verwendeten Authentifizierungsmaterials. Wie also werden dokumentarische Formate, vorhandenes Bild-, Ton- oder Filmmaterial sowie Zeitzeugen oder Wissenschaftsexperten integriert, deren Erkenntnisse auch gegebenenfalls im Off, vermittelt durch eine Erzähler- oder Kommentarstimme zum Tragen kommen? Ist hiermit der fließende Übergang vom Dokumentar- zum Spielfilm angedeutet, muss auch bei der Betrachtung dominant dokumentarischer Formate die vom Autor gesetzte übergreifende Erzählung berücksichtigt werden. Gleichzeitig gibt es aber auch Filme, die jenseits realer Bezüge, die künstlerische Produktion an sich – in den unterschiedlichsten Formen – in den Blick nehmen.
Biografische Künstlerfilme nehmen in dieser Hinsicht eine besondere Stellung ein. Jens Malte Fischer weist in seinem Beitrag darauf hin, dass diese sie nicht zuletzt in einer Linie mit Künstlernovellen und dem künstlerischen Entwicklungsroman zu sehen sind und einer eigenen Traditionsbildung unterliegen. Eine weitere Traditionsbildung wird im Bereich der Fortschreibung bzw. dem Unterlaufen tradierter Künstlerstereotypen deutlich. Hierzu gehören das Außenseitertum, das Leiden an der bürgerlichen Gesellschaft, das von deren Nichtakzeptanz und Nichtanerkennung forciert wird, die besondere, genialische Erkenntnis- und Gestaltungsfähigkeit, Exzentrik und das Verkennen der Leistung zu Lebzeiten.
Nach der Einleitung von Fabienne Liptay, die das weite Spektrum umreißt, folgen Fallstudien zu einzelnen Filmen, vergleichende Analysen, Überlegungen zu stilbildenden Kinoepochen und grundsätzliche Betrachtungen zum Künstler. Der erste Teil widmet sich Filmen mit Bezügen zu realen Vorbildern: Thomas Koebner untersucht Konzeptualisierungen von Künstlerinnentum in CAMILLE CLAUDEL (1988), FRIDA (2002) und SERARPHINE (2008), Fabienne Liptay schreibt über MUNCH (2007) und Jörg von Brincken über LOVE IS THE DEVIL. STUDY FOR A PORTAIT OF FRANCIS BACON (1998). Lorenz Welker befasst sich mit Psychopathologie und Apotheose im Beethoven-Film IMMORTAL BELOVED (1994) und Wolfgang Rathert mit Musik als Widerstand und ästhetische Materie in Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets CHRONIK DER ANNA MAGDALENA BACH (1968). Jens Malte Fischer untersucht Ken Russels Verwendung von Gewalt und Sexualität in MAHLER (1974).
Im zweiten Teil, den Christopher Balme mit Überlegungen zu Fitzcarraldo (1982) eröffnet, stehen mit Aufsätzen von Miriam Drewes über LA NUIT AMERICAINE (1973) und Christof Decker über die reflexive Filmkunst des New Hollywood Cinema übergreifende Analysen im Mittelpunkt, die durch Beiträge von Michaela Krützen über THE HOURS (2002), Nathalie Weidenfeld über ANTICHRIST (2009) und Andreas Englhart über das Motiv des Leidens des Künstlers ergänzt werden.
Jenseits eingängiger Einzelanalysen bietet der Band einen guten Überblick über die Spielarten und künstlerischen Korrespondenzen zwischen Kunst und Künstlerbildern, deren Darstellung und Problematisierungen im Film. Zudem eröffnen die Beiträge einen historischen Zugang zur Auseinandersetzung mit diesem Thema schon vor der Erfindung des Films. (Michael Grisko)
Filmblatt 46-47 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 10.3.2012
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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