Sonja Kmec, Viviane Thill (Hg.): Private Eyes and the Public Gaze. The Manipulation and Valorisation of Amateur Images. Trier: Kliomedia 2009, 136 Seiten
ISBN 978-3-89890-136-9, € 24,90
Innerhalb der filmischen Tradition stellen Amateurfilme ein eigenes Genre dar, das sukzessive auch in der Wissenschaft eine bemerkenswerte Konjunktur erfahren hat. Ein bekanntes Beispiel sind die Amateuraufnahmen von Eva Braun, die Nationalsozialisten im privaten Rahmen auf Hitlers Berghof am Obersalzberg zeigen. Durch die Verwendung dieser Bilder in Dokumentarfilmen sind sie mittlerweile ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft übergegangen und Teil eines Mythos geworden, der Identität zu stiften vermag.
Der von Sonja Kmec und Viviane Thill herausgegebene Tagungsband Private Eyes and the Public Gaze: The Manipulation and Valorisation of Amateur Images befasst sich mit eben diesen Amateuraufnahmen in Film und Fotografien, die eine Sicht auf die Wirklichkeit liefern, die Mainstream-Medien in der Regel nicht zu leisten vermögen. Zwischen den Polen von Theorie und Empirie gruppieren sich dementsprechend auch die Beiträge: Patricia R. Zimmermann korreliert in ihrem theoretisch fokussierten Beitrag die referenzielle Beziehung von Amateurfilmen und Zeichen mit denen von Trauma und Verlust. Sie führt dazu 30 Axiome des Amateurfilms an, die anschaulich und überzeugend exemplifiziert werden. Durch diese Axiome gelingt es Zimmermann, den Amateurfilm im ökonomischen, ästhetischen, sozialen und politischen Diskurs zu verorten sowie die Spezifik seiner medialen Praxis zu erläutern. Nicht nur in Zimmermanns Beitrag, sondern auch in allen anderen wird deutlich, dass Amateurfilme mehr als ein bloß randständiges Filmgenre sind. Vielmehr wird die oftmals als dilettantisch verunglimpfte Herangehensweise der Filmenden durch die ästhetisch-inhaltliche Authentizität aufgewertet. Thematisch daran anknüpfend stellt Danielle Leenaert mit Rekurs auf Bourdieus Ansatz über die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie fest, dass Familienfotografie und Amateurfilm der Stabilisierung von Gruppenidentitäten dienen und somit keine klare Trennung mehr von professionellen und amateurhaften Filmen vollzogen werden kann.
An die Frage der Identitätsbildung schließt sich der erste Teil des Bandes über „Identifications“ an. Vorwiegend empirisch argumentieren die Beiträge von Petra Pierrette Berger über die Narrative in privaten Fotoalben, von Susan Aasman über den Privatfilm als neue kulturelle Praktik, von Valérie Vignaux über die Familienfilme von Clotilde Muller-Libeski und von Saskia Klaassen Nägeli über die Bedeutung von Amateurbildern im Kontext von Migration. So interessant und gut beobachtet die Beispiele der Reisealben, des Films über das Laufenlernen, der filmenden Mutter und der Migrantenfotos sind, fehlt es in diesen Analysen doch an einem theoretischen Unterbau und somit an Tiefe.
Der zweite Teil des Buches über „(Re)locations“ zeigt, welche Konsequenzen sich ergeben, wenn Bilder oder Filme aus ihrem ursprünglichen ideologischen oder historischen Kontext herausgelöst werden. Heather Norris Nicholson macht hier deutlich, dass der jeweilige Rezeptionsrahmen der Bilder wesentlich zu deren verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten beiträgt und dadurch vielfältige Deutungsangebote entstehen. Dies erinnert an Jürgen Links Interdiskursanalyse, die beschreibt, wie verschiedene Elemente der Wirklichkeit zunächst entkontextualisiert und dann narrativ neu zusammengefügt werden. Somit könnte der Film – wie die Literatur – reintegrativ verfahren.
Der Holocaust gehört zu den historischen Bezugspunkten, die in das kulturelle Gedächtnis überführt werden müssen. Dabei sind nicht nur kommunikative Tradierungen des kulturellen Gedächtnisses identitätsstiftend, sondern vor allem seine zahlreichen medial stabilisierten Ausprägungen. Während Sigmund Freud eine kollektive Vergangenheit lediglich als Teil des individuellen Lebens sah, erkennt die Theorie von Maurice Halbwachs kollektive Erinnerung als Möglichkeit eines Zugangs zur historischen Vergangenheit an. Auch die Aufsätze von Sandra Starke über SS-Männer als Amateurfotografen und von Leska Krenz über Privatfilme aus der DDR sehen Amateurfilme als eine grundsätzliche Ausdrucksform kollektiver Erinnerung. Besonders durch die kritische Kontrastierung von offiziellen Aufnahmen (oftmals Propagandamaterial) mit Amateuraufnahmen, die aus einer radikal subjektiven Sicht entstanden sind, erscheint der Holocaust als Zivilisationsbruch, als Zäsur im Denk- und Darstellbaren. Durch das Oszillieren eines Ereignisses zwischen verschiedenen Perspektiven wird also keine reine Re-Produktion der Vergangenheit geliefert; vielmehr entstehen Re-Konstruktionen und Re-Interpretationen von subjektiven Erfahrungen auf der Folie des Gegenwärtigen. Jean-Claude Leners zeigt zudem auf einer alltäglicheren Ebene, dass Amateurfilme etwa auch in der Therapie von durch Alkoholmissbrauch verursachten Erinnerungsproblemen helfen können.
Der dritte Teil des Bandes über „(Re)appropriations“ veranschaulicht die Verwendung von Bild- und Filmmaterial in künstlerischen Projekten. Besonders interessant erscheint dabei Anke Heelemanns Kunstprojekt der „Fotothek, Fachgeschäft für vergessene Privatfotografien“ in Weimar. Heelemann sammelt private Fotografien, Fotoalben und Dias und untersucht deren verschiedene Perspektiven. Durch ästhetische Distanz will sie in ihren Installationen die Kunst mit dem Alltäglichen verbinden.
Auch ohne oder gerade trotz der fehlenden dramaturgischen Muster – dies zeigt der breit angelegte Band deutlich – stellen Amateuraufnahmen eine unverzichtbare Quelle für Kunst und Wissenschaft dar. Allerdings sind sie keine selbstreferenziellen Systeme, sondern stehen in einem Austauschverhältnis mit anderen gesellschaftlichen Diskursen, weshalb ihnen eine sinnstiftende Funktion bei der Formung und Reflexion von Erinnerung zugeschrieben werden kann. Außerdem zeigt der kluge Band auf hervorragende Weise, dass Wissenschaftler unterschiedlichster disziplinärer Herkunft ein gemeinsames Feld von Fragen bearbeiten und so Raum für weitere analytische Überlegungen schaffen können. (Isabell Baumann)
Isabell Baumann ist Germanistin und zur Zeit Studentin im „Master en langues, cultures et médias“ an der Université du Luxembourg.
Filmblatt 45 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 10.9.2011
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
Copyright (c) by CineGraph Babelsberg. All rights reserved.