Christa Blümlinger: Kino aus zweiter Hand. Zur Ästhetik materieller Aneignung im Film und in der Medienkunst. Berlin: Vorwerk 8 2009, 288 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-940384-09-6, € 24,00
Intensiv wurde zum Ende des 20. Jahrhunderts über angeblich „postmoderne“ Verfahren der Zitierung und Wiederverwertung debattiert. Gleichzeitig hat die einsetzende Digitalisierung der audiovisuellen Medien Film und Video die Möglichkeiten jener Integration und Repräsentation von heterogenem Material wesentlich vereinfacht und ausgeweitet, die Jay David Bolter und Richard Grusin unter dem Begriff der „Remediation“ untersucht haben. Bislang hat jedoch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kreativen Befragung und Benutzung von vorgefundenen audiovisuellen Sequenzen nicht in der angemessenen Weise stattgefunden. Christa Blümlingers Studie Kino aus zweiter Hand ist die willkommene Bearbeitung dieses Desiderats. Blümlinger, eine deutschsprachige, in Paris ansässige und arbeitende Filmwissenschaftlerin, ist für diese Aufgabe ganz besonders prädestiniert, da sie die Stärken der hiesigen filmhistoriografischen und medientheoretischen Perspektiven mit den ästhetischen und philosophischen Ansätze aus Frankreich vereinen kann.
Umso mehr hätte man sich 45 Jahre nach Jay Leydas Films Beget Films (1964) von Blümlinger ein neues Standardwerk zur Kategorie des Found Footage gewünscht – einer Kategorie, die inzwischen durch die Arbeit mit Fernseh- und Videomaterial, vor allem aber durch die umfassende Digitalisierung dieser Medien entscheidend erweitert wurde. Die fachliche Kompetenz sowie intellektuelle Stärke dazu besitzt sie zweifellos. Zu keinem anderen Schluss kann kommen, wer diese im Detail überaus anregende Habilitationsschrift gelesen hat. Doch schon in der Einleitung macht die Autorin klar, dass sie ihre Aufgabe „keineswegs in der Konstitution einer Geschichte materieller Einverleibung im Film und in der Medienkunst und auch nicht in der Erstellung einer umfassenden Typologie filmischer Aneignungsstrategien“ (S. 9) sieht. „Vielmehr soll anhand von Einzelstudien […] eine erweiterbare Kartographie möglicher Ausdrucksformen und entsprechender Begriffsfelder erstellt werden“ (ebd.). In dieser gewählten Struktur liegen die Stärken und Schwächen des Buches: Stark ist es in der Analyse der ausgewählten Beispiele und deren Verankerung in medienästhetischen und geschichtsphilosophischen Kontexten. Das liegt sicher auch daran, dass Blümlinger ihre diesbezüglichen Gedanken über viele Jahre hinweg entwickelt hat und ihre Kapitel auf verschiedenen Aufsätzen basieren, die seit den 1990er Jahren veröffentlicht wurden. Doch genau hierin besteht auch das Problem, da sie auf eine umfassende Synthese dieser Einzelerkenntnisse verzichtet.
Das Buch ist eingeteilt in die Kapitel „Kulturen der Aneignung“, „Material und Umformung“, „Kartographie der Zeit“, „Filmgeschichte als Erfahrung“, „Archäologische Dispositive“ sowie „Jenseits des Films“. Im Zentrum stehen dabei die Filmemacher Ken Jacobs, Bill Morrison, Peter Tscherkassky, Matthias Müller, Dietmar Brehm, Yervant Gianikian & Angela Ricci Lucchi, Chris Marker, Morgan Fisher, Jean-Luc Godard, Alexander Kluge, Harun Farocki und Constanze Ruhm. Ihnen sind jeweils eigene Kapitel gewidmet. Da ihre Werke und Strategien aber natürlich auch in den anderen Kapiteln eine Rolle spielen, ist es schade, dass sich das Erscheinungsbild einer Aufsatzsammlung auch im Fehlen eines Indexes manifestiert. Blümlingers Bemerkungen zu solchen Künstlern, die kein eigenes Kapitel haben, wie z.B. Gustav Deutsch, sind daher auch nicht auf Anhieb zu finden, und zum Kapitel über Péter Forgács gelangt man nur dann ohne Umwege, wenn man weiß, dass der Film FREE FALL (1997) von ihm ist, da sein Name im Inhaltsverzeichnis offenbar vergessen wurde.
Inhaltlich diskussionswürdig ist Blümlingers in Anlehnung an die Filmemacherin Sharon Sandusky gewählte Bezeichnung „Archivkunstfilm“ für das Genre des Avantgardefilms, das sonst „Found-Footage-Film“ genannt wird (S. 37). Betont werden solle damit eine bewusste Auseinandersetzung mit dem Kontext einer Sammlung, aus dem das ‚gefundene’ Material entstammt. Schon Jay Leyda hatte allerdings den Begriff „archive films“ wegen einer Verwechslungsgefahr mit der generellen Praxis, Filme (irgendeines Typs) im Archiv aufzubewahren, abgelehnt. Grundsätzlich wirken solch nachträglich implementierten Feinjustierungen etablierter Begriffe ein bisschen angestrengt. Letztlich bleibt die von Blümlinger ausdrücklich nicht als Ziel angekündigte Typologisierung des Korpus in solchen Definitionen stecken, die sie nebenbei einfließen lässt, anstatt den Aufbau ihres Buches danach auszurichten. Dasselbe gilt beispielsweise für ihre sehr luziden Ausführungen zum Verhältnis von Bild und Ton. Auch hier nimmt sie eine Typologisierung vor, die es verdient hätte, auf eine allgemeine Ebene gehoben zu werden.
Zu guter Letzt muss man bedauern, dass Blümlinger sich bei der im Titel versprochenen „Medienkunst“ fast ausschließlich auf Installationen von Künstlern beschränkt, die sich als Filmemacher schon einen Namen gemacht haben und die in erster Linie auf Filmmaterial zurückgreifen. Auch wenn das eine sinnvolle Beschränkung sein mag, hätte eine intensivere Reflexion der zahlreichen Videokunstwerke, die mit Fernsehbildern operieren, oder der vielfältigen Strategien, mit denen im Internet mit ‚gefundenem’ Material verfahren wird, durchaus fruchtbar sein können. Immerhin weist Blümlinger selbst darauf hin, dass die Geschichte der Videokunst in den meisten Überblickstexten zu Found Footage fehlt. Unklar bleibt, warum sie im letzten Kapitel, in dem sie sich dann tatsächlich „jenseits des Films“ bewegt, nur die Arbeiten von Constanze Ruhm berücksichtigt, die insofern nicht auf Filmmaterial zurückgreift, als sie bereits bestehende Filmbilder virtualisiert, also beispielsweise mit digital hergestellten Modellen deren Architektur remodelliert. Vielleicht spielen bei Blümlingers Auswahl auch persönliche Vorlieben oder gar Bekanntschaften eine Rolle, weshalb ihr etwa die kritische Distanz für die Frage fehlt, ob einige der von Harun Farocki produzierten (und aus Filmen hervorgegangenen) Installationen wirklich einen entscheidenden Beitrag zur Videokunst leisten oder doch nur eine etwas einfallslose Zweitverwertung darstellen. Dennoch: Dieses Buch ist gleichzeitig eine hervorragende Zusammenfassung bisheriger Überlegungen zum „Kino aus zweiter Hand“ und eine wirklich aufschlussreiche Bearbeitung ausgewählter Beispiele. Es muss eindeutig zu den bemerkenswerten Neuerscheinungen gezählt werden. (Chris Wahl)
Chris Wahl ist mit seinem DFG-Projekt „Zeitlupe und Mehrfachbelichtung“ an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg angesiedelt. Mitglied von CineGraph Babelsberg. Im Juni 2011 erscheint in der edition text + kritik der von ihm herausgegebene Band Lektionen in Herzog – Neues über Deutschlands verlorenen Filmautor und sein Werk.
Filmblatt 44 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 12.5.2011
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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