Joachim Thommes: In jeden dieser Filme wollte ich Kunst reinbringen, soviel ich nur konnte. Hugo Niebeling, die Mannesmann-Filmproduktion und der bundesdeutsche Wirtschaftsfilm 1947-1987. Norderstedt: Books on Demand 2008, 206 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-8370-8257-9, € 39,95 (Buch und DVD Mit Film Geschichte entdecken)
Zwei teils konträre Ansätze kennzeichnen derzeit die Forschungssituation zum Wirtschafts- und Unternehmensfilm in Deutschland. Einerseits ist die mit dem Begriff „Gebrauchsfilm“ gefasste Stereotypisierung eines Genres, das sich mehr oder minder vollständig den Auftraggeberinteressen unterzuordnen habe, nach wie vor evident. Zum anderen kommen immer wieder Studien heraus, die individuell-künstlerische Teilhaben an solchen Medienerzeugnissen höher bewerten und ihnen damit eine breite inhaltlich-ästhetische Vielfalt attestieren. Schon in der Überschrift schlägt sich Joachim Thommes mit der aus seiner geschichtswissenschaftlichen Dissertation hervorgegangenen Publikation eindeutig auf letztere Seite. Dies erscheint schon deshalb legitim, weil seine hauptsächlichen Analysegegenstände, die Mannesmann-Imagefilme STÄHLERNE ADERN (1956) und ALVORADA – AUFBRUCH IN BRASILIEN (1962) von Hugo Niebeling, mehrere Bundesfilmpreise und Filmbänder in Gold einheimsten. Doch insbesondere Wirtschaftsfilme sind eben nicht nur künstlerische Produkte, mit denen sich Lebensläufe ihrer Macher nachzeichnen lassen, sondern auch Bestandteile bzw. Reflexionen von Firmenpolitiken und damit eng an gesellschaftliche Zustände gebunden.
So verwundert es nicht, dass Thommes die Darstellung seines „Methoden-Mix“ mit einem Plädoyer für den Film als geschichtliche Quelle eröffnet, der historisch-kritische Umgang mit den Filmen und weiteren Sekundärquellen (wie Zeitzeugeninterviews oder Texte zur Produktion und Rezeption der Filme) zur Basis seiner Untersuchung erklärt und sich zugleich auf Verfahren der Biografieforschung beruft. Ziel müsse es sein, „tiefere Schichten der Bilder freizulegen“ (S. 35). Dies zu wiederholen ist richtig und wichtig, so neu aber eben auch nicht.
„Mit Film Geschichte entdecken“ lautet das erklärte Motto der unter dieser Prämisse entstandenen Fleißarbeit. Unter diesem Titel läuft auch die logische wie zeitgemäße Erweiterung des Buches, eine DVD-ROM, die die vollständige Doktorschrift sowie ergänzende Text- und Bilddokumente enthält. Diese beeindruckende, die Rechercheintensität des Autors nachdrücklich belegende Sammlung soll zum „tieferen, ganzheitlichen Verständnis der Inhalte und Analysen beitragen“ (S. 9). Im Buch finden sich denn auch zahlreiche Verweise, die eine Verlinkung mit den entsprechenden elektronischen Passagen herstellen und zum Benutzen der DVD einladen.
Den Analyseteil beginnt Thommes mit allgemeinen Betrachtungen zum bundesdeutschen Wirtschaftsfilm zwischen 1947 und 1987 sowie zur Industriefilmproduktion bei Mannesmann. Für den Leser ist diese thematische Hinführung sinnvoll, Grundlinien einer Entwicklung werden erkennbar – von den „Gründerjahren“ mit Bezugnahmen zum Kulturfilm mit Spielhandlung, über die Auswirkungen des Fernsehens in den frühen 1960er Jahren mit vereinzelten aufwendigen Imagefilmen (im Kontext reformierter audiovisueller unternehmerischer Gesamtkonzepte) bis hin zum stärker erzeugniszentrierten Informations- bzw. Vertreterfilm (auf 16mm, Super 8 oder Video) in den 1980er Jahren. Freilich bleiben nach diesem Stakkato Fragen offen – die Thommes auch später nicht beantworten kann, zu unbeackert ist hier noch das Forschungsfeld. Warum beispielsweise kann trotz Fernseh-Konkurrenz, Kinosterben und einer insgesamt rückläufigen Zahl großer Imagefilme um 1960 gleichzeitig von einer „Neuen Welle des Industriefilms“ mit vereinzelten ambitionierten Projekten gesprochen werden? Und lässt sich diese „Welle“ tatsächlich mit den gesamtgesellschaftlich relevanten Erneuerungen des deutschen Films nach dem Oberhausener Manifest (vor allem bezüglich inhaltlicher Komponenten) sinnvoll in Relation setzen?
Fürs erste liefert die Veröffentlichung für den Fall Mannesmann und den Filmemacher Niebeling wichtige Bausteine, um sich diesen Komplexen anzunähern. Dabei sind auch solche „einfachen“ Befruchtungen zu berücksichtigen, die der Jungregisseur etwa für seinen Erstling STÄHLERNE ADERN (1956) empfing. Wie Niebeling berichtet, hatte er zum Zeitpunkt der Auftragserteilung für diesen Industriefilm keine Ahnung vom Filmemachen. Im Firmenkeller habe er ein paar Nitrofilmrollen entdeckt, „von denen keiner wusste, was das ist. Das habe ich mir mal angeguckt. Es war ein Mannesmann-Film – von Ruttmann, 1935/36 gedreht. […] Ich habe wirklich versucht, alles zu memorieren, was nur irgendwie möglich war.“ (S. 76) In Anlehnung an Ruttmann steht so im Ergebnis ein monumental inszenierter Produktionsprozess und ein bisweilen pathetischer Kommentar. Mit der Zeit sei Niebeling dann in seinen Beruf Unternehmensfilmregisseur hineingewachsen, ohne seine künstlerischen Ansprüche („Kunst ist verdichtetes Leben“ – so im Interviewausschnitt auf der DVD) zu vergessen.
Sehr plastisch schildert Thommes das daraus folgende elementare Konfliktfeld zwischen (Autoren-)Filmer und Kundeninteressen (zumeist in Gestalt von Konzernvorständen). Im günstigeren Fall, so bei STÄHLERNE ADERN, beließ man dem Regisseur „seine Version“ und ergänzte sie um eine kürzere mit teilweise abweichendem Text. „Und von Mal zu Mal wurde der immer pathetischer vorgetragen; jetzt muss es doch gut sein! – Nein, jetzt hauen wir noch einen drauf!“ (S. 81) Oder es kam zu Eklat, die Firma lehnte den Film ab und stufte ihn für eigene Kampagnen als ungeeignet ein.
Dieses Schicksal ereilte auch Niebelings Meisterwerk ALVORADA – AUFBRUCH IN BRASILIEN, das dennoch für den Oscar nominiert wurde. Die Ausführungen zu diesem Film zählen zu den stärksten der Publikation. Thommes fügt hier die zahlreichen Quellen aus dem Mannesmannarchiv zu einer spannenden Erzählung um Produktion, Aufführung und Nachnutzung des Films zusammen: Ab 1958 beschäftigte den Vorstand die Idee, das internationale Konzernengagement anhand eines „Brasilienfilms“ zum Leuchten zu bringen; Niebeling wurde verpflichtet, bekam freie Hand und einen üppigen Etat. Doch der Hausregisseur modifizierte die Aufgabenstellung und lieferte – dem Titel ALVORADA = Morgenröte entsprechend – ein extravagantes, fast experimentell anmutendes Porträt eines Landes im Aufbruch und hielt sich bei der Platzierung des Namens Mannesmann (und jeglicher Assoziationen an ihn) zurück. Niebeling spannte einen Bogen von der europäischen Entdeckung Brasiliens durch die Portugiesen, dessen „Kultivierung“ durch die Einwanderer (mit vielen Rückschlägen) bis hin zu seiner Ankunft in der Moderne – exemplifiziert an Neubauprojekten im Landesinnern mit Städten wie Belo Horizonte und letztlich Brasilia. Der Konzern-Vorstand quittierte diese „Globalsicht“ (ohne Benennung des Mannesmann-Engagements) mit Ablehnung, legte den Film auf Eis und setzte Niebeling vor die Tür. Doch der Bescholtene startete eine Offensive, versuchte an Mannesmann vorbei positive Referenzen für „seinen Film“ zu sammeln, ein „PR-Desaster“ bahnte sich für den Auftraggeber an. Schließlich zogen die Parteien vor Gericht, wo man sich auf einen Vergleich einigte: Negativ und Drehmaterial gingen an den Konzern, das Regisseursrecht bekam Niebeling zugesprochen, den Verleih des „Directors-Cut“ übernahm eine Drittfirma. Nur zögerlich bekannte sich Mannesmann zu ALVORADA (um die Annahme von Preisen war man dennoch nicht verlegen), mit Materialverkäufen wurden die Produktionskosten größtenteils eingespielt (obwohl das strahlende Investitionsbeispiel Brasilien schon 1962 zu verblassen begann). Niebeling setzte seine Kariere als avancierter Industriefilmer bei Agfa, Aral und Bayer sowie als Gestalter von Tanz- und Musikfilmen fort.
Großen Raum gewährt Thommes der dramaturgischen und formalen Analyse seiner filmischen Untersuchungsobjekte, und richtigerweise widmet er dem exponierten Musikeinsatz durch Oscar Sala und Horst Dempwolff ein eigenes Kapitel. Dabei ist die Tendenz nicht zu übersehen, das ästhetisch Neuartige in Niebelings Werken zu betonen. Statt vieler Informationen und Kulturfilmidylle herrschten nun „rauschhaft bewegte Kameraaufnahmen“ mit „elektronischen Klangcollagen“ (S. 192/193) vor; Hugo Niebeling – ein „Avantgardist und zweiter Ruttmann“ (S. 174), fragt Thommes. So sehr dem Ja des Autors zuzustimmen ist, so hält sich am Ende dieses insgesamt empfehlenswerten Buches doch der Eindruck einer gelegentlich zu affirmativ geratenen Würdigung. Die methodisch stark akzentuierte Quellenkritik hätte konsequenter auf die Bilder und Töne von ALVORADA angewendet, die Interpretationsbreite dieses Materials umfassender ausgeschöpft werden können. So sieht Thommes zwar richtig, dass Niebeling alle Register der rhythmischen, effektvollen Montage zieht, doch hätte man sich gewünscht, dass diese hochgradig inszenierte, ent-individualisierte und artifiziell überzeichnete Bilderflut auch in ihrer thematisch-inhaltlichen Bezüglichkeit vermessen wird. Durch solche Zugänge erhielte die „Neue Welle des Industriefilms“ (die ja wohl trotz künstlerischer Innovation immer noch einem ungebrochen positivistischen Weltverständnis huldigte) eine differenziertere, von Gattungsreformen insgesamt unterscheidbare Dimension. (Ralf Forster)
Ralf Forster, Filmtechnikhistoriker am Filmmuseum Potsdam. Mitglied von CineGraph Babelsberg und Redakteur von Filmblatt. Zuletzt Veröffentlichungen über die Bildwerbung der Junkers-Werke (in: Junkers Dessau. Fotografie und Werbegrafik, Göttingen 2010) und über die privaten Filmproduzenten in der DDR (Im Schatten der DEFA. Private Filmproduzenten in der DDR, Konstanz 2010, mit Volker Petzold).
Filmblatt 44 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 12.5.2011
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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