Ingrid Buchloh: Veit Harlan. Goebbels’ Starregisseur. Mit einem Vorwort von Hans Mommsen. Paderborn u.a.: Ferdinand Schöningh 2010, 347 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-506-76911-4, € 34,90
Nicola Valeska Weber: Im Netz der Gefühle. Veit Harlans Melodramen. Berlin: LIT Verlag 2011, 130 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-643-10030-6, € 19,90
Ulrich Gehrke: Veit Harlan und der Kolberg-Film. Filmregie zwischen Geschichte, NS-Propaganda und Vergangenheitsbewältigung. Hamburg: Selbstverlag 2011, 478 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-00-033289-0, € 39,90
Thomas Harlan: Veit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2011, 156 Seiten
ISBN 978-3-498-03012-4, € 17,95
Veit Harlan (1899-1964) scheint gegenwärtig eine kritische Renaissance zu erleben. Nach Felix Moellers 2010 auch auf DVD veröffentlichtem Dokumentarfilm IM SCHATTEN VON JUD SÜSS (2008) und dem bei der letztjährigen Berlinale uraufgeführten Spielfilm JUD SÜSS – FILM OHNE GEWISSEN (2010) von Oskar Roehler sind kurz nacheinander auch vier deutschsprachige Bücher über Harlan und seine Filme erschienen, die sich ihrem Gegenstand alle auf ganz unterschiedliche Weise nähern. Zusätzlich veröffentlichte Nadia Crucitti in Italien ihren Tatsachenroman Berlino 1940. La convocazione (Ravagnese 2010), der – wie Roehlers Film – die Entstehungsgeschichte von JUD SÜSS (1940) erzählt.
Für eine Biografie über „Goebbels’ Starregisseur“ – so der von ihr selbst gewählte Untertitel – erfüllt die Historikerin Ingrid Buchloh eine wichtige Voraussetzung: Sie steht der Familie Harlan nahe und erhielt Zugang zu aufschlussreichen persönlichen Dokumenten. Zugleich ist bei ihr keine emotionale Abhängigkeit zu erkennen. Im Gegensatz zu einigen direkten Nachkommen von Veit Harlan, die Felix Moeller für IM SCHATTEN VON JUD SÜSS interviewt hat, scheint sie kein „gebranntes Kind“ zu sein. Zuallererst ist sie Familienhistorikerin. Sie verfolgt die Spur der Harlans bis zu dem um 1630 geborenen Francis Herland und korrigiert zwei bisher falsch erzählte Geschichten: Veit Harlans Mutter Adele Boothby war kein Findelkind, das die leibliche Mutter ausgesetzt hat. Und seine Ehe mit Hilde Körber ist nicht in letzter Sekunde vor der Geburt des ersten Sohnes Thomas geschlossen worden, sondern erst nach der Entbindung. Wer sich vorrangig für den Filmemacher Harlan interessiert, findet solche Aufdeckungen vielleicht irrelevant, doch sie erhöhen das Vertrauen in eine Autorin, die Quellen überprüft und hinterfragt.
Auch zu Harlans eigenen Auskünften wolle sie auf Distanz gehen, erklärt sie im Vorwort. Von dieser Distanz ist im Haupttext wenig zu spüren. Harlan war, ganz unabhängig von der Schuldfrage, kein guter Historiker und nicht einmal ein guter Anwalt in eigener Sache. Da er nie Tagebuch geführt hat, sah er sich gezwungen, für seine Autobiografie Im Schatten meiner Filme (1966) wichtige Vorgänge aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, was ihm mehr schlecht als recht gelang. Wie genau im November 1939 die Regie von JUD SÜSS an ihn übergeben wurde, muss auch weiterhin als ungeklärt bleiben; selbst Goebbels’ Tagebücher sind hier auffallend lückenhaft. Doch gerade im Zusammenhang mit diesem folgenschweren Projekt zitiert Buchloh Harlans Version der Geschichte, nach der er vom Minister gezwungen wurde, als Tatsache, nicht als Möglichkeit.
Das fällt umso mehr ins Gewicht, als sie insgesamt äußerst gewissenhaft arbeitet. So gewissenhaft, dass sie sich lieber an harte Fakten hält, statt psychologische Deutungen oder eine vergleichende Kulturgeschichte zu wagen. Verständlicherweise will sie auch der Familie Harlan nicht zu nahe treten. Das gilt besonders für das schwierige Verhältnis zwischen Veit Harlan und seinem im Oktober 2010 gestorbenen Sohn Thomas, der seit den 1950er Jahren unermüdlich gegen tausende NS-Verbrecher ermittelt hat. Gerade Buchlohs Wunsch, den angefeindeten Künstler zu verteidigen, hat jedoch zur Folge, dass er als Mensch mit Stärken und Schwächen nicht lebendig wird.
Etwas kontraproduktiv erscheint der Schwerpunkt auf Harlans Zeit als Regisseur im nationalsozialistischen Film; damit unterstützt die Autorin unbewusst jene reduktionistische Sicht, die einen Großteil der Literatur über Harlan kennzeichnet. Während sie den fünf Jahren zwischen JUD SÜSS (1940) und KOLBERG (1945) 112 Seiten widmet, reichen ihr für die Zeit vor JUD SÜSS 66 Seiten und für die Zeit nach KOLBERG nur 42 Seiten. Die Wertschätzung, die OPFERGANG (1944) genießt (der slowenische Philosoph Slavoj Zizek rechnete ihn in einer Umfrage für Sight & Sound zu den zehn besten Filmen aller Zeiten), ist ihr keine Erwähnung wert. Einzelne Essays von Norbert Grob und Georg Seeßlen sind ihr bekannt, werden aber nicht ausgewertet. An der Harlan-Rezeption interessiert sie, ob ein Autor für oder gegen ihn ist und nicht die ideologisch-moralisch wertfreie Analyse seiner Ästhetik, wie sie etwa Daniel Kothenschulte vorgelegt hat.
Die Stärken des Buches sind eine Fülle bisher unveröffentlichter Dokumente und die angesichts der Faktenhuberei nicht selbstverständliche Lesbarkeit. Buchloh zitiert Briefe von Verfolgten des NS-Regimes, die Harlan entlastet haben. Zitiert wird aber auch eine empörte Absage des Schauspielers Otto Wernicke, der einen Großteil seiner Familie in Auschwitz verloren hatte und sich unter diesem Eindruck weigerte, zugunsten Harlans auszusagen. Geradezu filmreif ist die Geschichte eines Briefes, den Fritz Kortner an Harlan schrieb: Kortner war im September 1929 von Harlan aus Eifersucht verprügelt worden, und rechte Kräfte nutzten diesen privaten Vorfall zu antisemitischer Propaganda. Im Oktober 1963 schrieb Kortner einen versöhnlichen Brief an den schwer erkrankten ehemaligen Freund und Rivalen, der jedoch seinen Adressaten nicht mehr erreichte.
Ein weiteres sensationelles Fundstück ist ein Foto, das Kirk Douglas im Dezember 1953 mit Harlan und Kristina Söderbaum zeigt. Hier hätte man gern gewusst, wie der Kontakt zustande gekommen war. Mit dem von Douglas produzierten Kriegsdrama PATHS OF GLORY (1957), das den Regisseur Stanley Kubrick mit Harlans Nichte Christiane zusammenführen sollte, hat dieses Beisammensein jedenfalls nichts zu tun. Weiterhin ungeklärt sind Details der kurzen Ehe mit Dora Gerson. Dass die Biografie trotz der anregenden und mitunter aufregenden Dokumente viele Fragen offen lässt, spricht nicht gegen die Autorin, sondern für die Reichhaltigkeit des Themas.
Einen Ausgleich zwischen Verdammung und Apologetik strebt Nicola Valeska Weber an, deren Buch Im Netz der Gefühle: Veit Harlans Melodramen aus einer Magisterarbeit hervorgeht. Sie untersucht DIE REISE NACH TILSIT (1939), OPFERGANG und HANNA AMON (1951) als „ästhetische Konstrukte mit eher offenen Bezugsmöglichkeiten“ (S. 27f.). Die besondere Qualität des Buches liegt in Webers eigenständigen Filmanalysen. Sie verfügt über eine sensible Wahrnehmung, befasst sich mit Hell-Dunkel-Kontrasten, musikalischen Leitmotiven, Ausstattung und Kostümen. Unter Einbeziehung weiterer Harlan-Filme wie JUGEND (1938), IMMENSEE (1943) und ICH WERDE DICH AUF HÄNDEN TRAGEN (1958) definiert sie Kontrastierungen und Überwältigungen als zentrale Themen des Regisseurs ebenso wie die Botschaft, „Es ist immer zu spät“. Überraschenderweise spielen gesellschaftliche Konventionen und Verstöße dagegen (Scheidung, uneheliche Kinder) ihr zufolge keine besondere Rolle in Harlans Werk.
So einleuchtend Webers eigene Betrachtungen sind, so problematisch erscheinen ihre Zitate aus der Fachliteratur zum Melodram, da diese sich auf das Hollywoodkino bezieht. Völlig ausgeblendet wird der kulturelle Kontext, den die eher leisen Melodramen von Artur Maria Rabenalt, Erich Waschneck oder Viktor Tourjansky bilden. Um die Frage zu beantworten, wie typisch Harlan für das NS-Kino war, müssten aber gerade diese Kontexte untersucht werden. Dass es keine einheitliche NS-Ideologie gegeben hat, räumt Weber zwar ein, arbeitet aber dennoch mit einem recht statischen und deshalb wenig überzeugenden Faschismus-Begriff. Dass sich Weber im Vorwort uneingeschränkt vom Harlan-Buch des Rezensenten distanziert, ist das eine; dass sie sich beim Vergleich von DIE REISE NACH TILSIT mit Murnaus SUNRISE (1927) wiederum fast wortwörtlich, ohne das auszuweisen, die Einschätzung aus dem beanstandeten Buch zu eigen macht („Anders als Sudermann grenzt Harlan die Geliebte über die fremde Nationalität aus, gleichzeitig erfährt die Figur aber eine intellektuelle und menschliche Aufwertung“, S. 76, vgl. Frank Noack: Veit Harlan, 2000, S. 172), ist das andere. Diese Einwände ändern nichts an der Tatsache, dass hier eine lesenswerte Arbeit vorliegt, von der man sich wünschte, dass sie überarbeitet und ergänzt würde.
Dem neben JUD SÜSS am meisten diskutierten und am meisten von Mythen umgebenen Harlan-Film, KOLBERG, hat Ulrich Gehrke ein voluminöses Buch gewidmet. Ihm zufolge müssen sowohl die Geschichte seiner Entstehung – von Goebbels’ Auftrag im April 1943 über die langen Dreharbeiten bis zur Premiere am 30. Januar 1945 in Berlin und der Atlantik-Festung La Rochelle – wie die seiner langen und verworrenen Rezeption nach 1945 (die Zweidrittel des Bandes einnehmen) zumindest in Teilen umgeschrieben werden. Gehrke, der als 17-Jähriger die Dreharbeiten selbst miterlebte, bis zur Pensionierung vor allem zu orientalistischen Themen publiziert hat und nun seit vielen Jahren zur Kolberger Stadtgeschichte forscht, macht auf Fehler in der Fachliteratur aufmerksam, die nicht zuletzt auf Harlans eigenen Einlassungen basieren und bisher selten beanstandet wurden – so die groteske Behauptung, Harlan habe im Sommer 1944 für seine Schlachtszenen 187.000 Soldaten von der Ostfront abkommandiert; Zahlen, die leicht variiert etwa bei David Welch und Klaus Kreimeier wieder auftauchen. Auch weist Gehrke anhand von Quellen im Bundesarchiv nach, dass das Budget nicht wie oft geschrieben bei 8,5 Millionen Reichsmark und mehr lag, sondern sich auf 7,6 Millionen Reichsmark belief. Die Dreharbeiten fanden zudem nicht, wie von Erwin Leiser behauptet, unter strengster Geheimhaltung statt. Die Auflistung der Fehler mag pedantisch erscheinen, aber wenn man bedenkt, wie viele angesehene Filmwissenschaftler die dubiosen Angaben unkritisch übernommen haben, dann erscheint die Überprüfung der Fakten durchaus angemessen. Als erster Historiker macht Gehrke von dem Umstand Gebrauch, dass unter den Komparsen Hobbyfotografen waren. Viele ihrer Bilder befinden sich heute in den Beständen des in Hamburg angesiedelten und von Gehrke benutzten Archivs der Kolberger Domschule, das unter der Leitung von Peter Jancke zum wichtigsten Kolberg-Archiv wurde. Das Buch zeigt einmal mehr, was für eine Bereicherung filmfremde Wissenschaftler für die Filmliteratur sein können.
Postum ist Thomas Harlans nicht geschriebenes, sondern diktiertes Buch Veit erschienen. Zu seinem eigenen Vater steuert es keine neuen Fakten, sondern subjektive Erinnerungen bei. Erstmals bekundet Thomas Harlan darin Interesse an Dora Gerson, der ersten, in Auschwitz ermordeten Frau seines Vaters. Bei Wikipedia erfährt man allerdings mehr über sie als in seinem Buch. Ergiebig ist allein der Anhang, der sich von Seite 94 bis 156 erstreckt. Für die Erläuterungen und Quellenangaben zeichnet Jean-Pierre Stephan verantwortlich, dessen Kommentare zur Familiengeschichte jedoch durch die Recherchen von Buchloh überholt sind.
Es wäre wünschenswert für die Harlan-Forschung, wenn ihre Vertreter mehr miteinander kommunizierten und ihre Forschungsergebnisse gemeinsam, in kritischer Solidarität überprüfen würden. (Frank Noack)
Frank Noack ist freier Autor. Seit 1993 verfasst er Filmkritiken (Der Tagesspiegel, Rheinische Post) und biografische Beiträge für das CineGraph-Lexikon (u.a. Manon Hahn, Theo Mackeben, Aribert Mog). Buchveröffentlichungen: Veit Harlan. Des Teufels Regisseur (München 2000) und Jannings (München 2011). Zur Zeit forscht er über die Regisseure Tinto Brass und Teuvo Tulio.
Filmblatt 44 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 12.5.2011
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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