Themenheft: Filmdokumente zu Nationalsozialismus und Holocaust
Editorial (Tobias Ebbrecht) [1]
Jeanpaul Goergen: „Eine lange Reihe von Tonfilmwagen und Aufnahmeapparaten“. Wochenschauen und Lokalaufnahmen von den Bücherverbrennungen 1933. – Von den nationalsozialistischen Bücherverbrennung 1933 sind nur zwei Filmberichte überliefert: Die Deulig-Tonwoche nahm die zentrale Aktion auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 auf, von dem Autodafé in Halle zwei Tage später sind stumme Aufnahmen der dortigen Landesfilmstelle erhalten. Der Beitrag analysiert diese Filmdokumente und verfolgt die Spur der Bilder in den ausländischen Wochenschauen und Dokumentationen. In den 1970er Jahren wurden beide Berichte zusammen mit der ebenfalls überlieferten Radioübertragung der Berliner Bücherverbrennung zu einem neuen Dokument montiert, das bald ein Eigenleben als echte „historische“ Aufnahme zu führen begann. Gegen die synthetische Authentizität der neuen Montage verblassen die originalen Film- und Tondokumente. [5]
Kerstin Stutterheim: Gesichtslose Projektion, inszeniertes Gegenbild. Das Bild des Juden in der deutschen Wochenschau 1933-1942. – Der Jude war in den Jahren des „Dritten Reiches“ omnipotent und personifizierte das ultimativ Böse. Die Wochenschau war ein bedeutendes Mittel der Propaganda, das sich an die Bevölkerung richtete, aber auch von außen wahrgenommen wurde. In der vorliegenden Studie wird an einigen Beispielen nachgezeichnet, wie in den Wochenschauen die Visualisierung des Juden als abstraktem Wesen entsprechend den von Saul Friedländer analysierten Stufen der Verfolgung bis zur Shoa vermieden oder umgesetzt wurde. [23]
Tobias Ebbrecht: Bilder, die es nicht geben dürfte. Film- und Fotoaufnahmen zum Novemberpogrom 1938 und ihre spätere Verwendung. – Gerade einmal zwei Filmdokumente sind vom Novemberpogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 überliefert: Privataufnahmen der brennenden Synagogen in Bühl und Bielefeld. Ein Film aus Dresden dokumentiert mit dem Abriss der dortigen Synagoge die Folgen des Pogroms. Insbesondere seit dem 50. Jahrestag des Pogroms 1988 thematisieren verstärkt Dokumentarfilme die Ereignisse von 1938 und greifen dabei auf das überlieferte Film- und Bildmaterial zurück. Andere Aufnahmen, etwa vom Abriss der Münchener Synagoge im Sommer 1938, werden oft fälschlicher Weise dem Novemberpogrom zugeordnet. Der Beitrag analysiert die originalen Filmdokumente im Entstehungskontext und verfolgt die Spur der stellvertretend für fehlende Originalaufnahmen eingesetzten Filmbilder. [37]
Tobias Ebbrecht: „Für die Kriegszeit bezeichnende Vorgänge“. Zwei Filme über die Ausgrenzung und Deportation der Juden in Stuttgart 1941. – Zwischen Oktober und Dezember 1941 wurden im Rahmen der Stuttgarter Kriegschronik zwei Kurzfilme hergestellt, die die Ausgrenzung und Deportation der lokalen jüdischen Bevölkerung zum Gegenstand haben. Der Film Lebensmittel-Sonderverkaufsstelle für Juden in der ehem. Gastwirtschaft „Zum Kriegsberg“ inszeniert die überreichliche Versorgung der jüdischen Bürger mit Lebensmitteln. Der als Judendeportation in Stuttgart 1941 oder Judensammellager Killesberg (1941) bekannt gewordene Film zeigt Stuttgarter Juden, die im Sammellager auf dem Gelände des Stuttgarter Killesberg auf ihre Deportation warten. Eine genaue Lektüre der beiden Filme verdeutlicht, dass beide Filme für die Archive produziert die Aufgabe hatten, retrospektiv ein bestimmtes Bild der antijüdischen Maßnahmen zu zeichnen. [55]
Anja Horstmann: Ghetto (AvT) (1942). Unvollendete dokumentarische Filmaufnahmen aus dem Warschauer Ghetto. – Im Mai 1942 drehte ein deutsches Filmteam einen tendenziösen Bericht über die Lebensverhältnisse im Warschauer Ghetto. Die Aufnahmen, als ragment und ohne Tonspur überliefert, schaffen ein auf der einen Seite „typisches“ und auf der anderen Seite ungewöhnliches Abbild des Warschauer Ghettos. „Typisch“ in dem Sinne, dass die Filmbilder stereotype Vor- und Darstellungen der nationalsozialistischen Propaganda über das europäische Judentum transportieren. Das ungewöhnliche an den Filmaufnahmen von 1942 ist die Konzeption als längerer, in sich geschlossener Film mit einer inhaltlichen Leitlinie: Der Film ist konsequent nach dem Prinzip des Kontrastes aufgebaut, um die scheinbar stark auseinanderfallenden Besitzverhältnisse im Ghetto zu belegen. [69]
Christoph Spieker: Polizei-Tätigkeit im Generalgouvernement. Die Arbeit der „Film- und Bildstelle der Ordnungspolizei“ im Zweiten Weltkrieg. – Der nur stumm überlieferte Lehrfilm Tätigkeit der Polizei im Generalgouvernement von 1941 zeigt alltägliche Polizeieinsätze im Zweiten Weltkrieg. Hinter den vorgestellten Kontrollen und Streifenfahrten werden aber wesentliche Teile der Polizeiarbeit im Osten ausgeblendet: ihr aktiver Part an der Durchführung der Shoah und der mörderische Zugriff auf die widerständische Bevölkerung. Heute werden diese Aufnahmen oft im populären Geschichtsfernsehen gebraucht, um den Besatzungsalltag zu veranschaulichen. Die Lehrfilmbilder generieren aber ein harmloses und mit Stereotypen gespicktes Szenarium. Der unkritische Gebrauch dieses offiziösen Bildmaterials könnte dazu verleiten, das polizeiliche „Gegenüber“ auf ein Bild aus der Perspektive der nationalsozialistischen Weltanschauung zu reduzieren. [83]
Günter Agde: Nach der Befreiung: Filmdokumente vom KZ Buchenwald 1945. – [97]
Jeanpaul Goergen: Kronzeuge Winston Churchill. Widerstand (1961) – Der erste bundesdeutsche Unterrichtsfilm über den deutschen Widerstand. – Erst 1961 entsteht in der Bundesrepublik mit Widerstand. Vom Kampf gegen Hitler in Deutschland 1933-1945 der erste Unterrichtsfilm über den deutschen Widerstand. Er behandelt den Widerstand der Sozialdemokratie und der Kirchen, den militärischen Widerstand sowie die Münchner Gruppe „Weiße Rose“ – jene Teile des Widerstands, die zur Identitätsstiftung der jungen Bundesrepublik politisch akzeptiert waren. Der Film geht mit dem historischen Filmmaterial aus der NS-Zeit stellenweise gedankenlos um, besticht aber durch die eindringlichen Erinnerungen der am Widerstand beteiligten unmittelbaren Zeitzeugen. Positive Kommentare von Winston Churchill über den deutschen Widerstand sollen diesem eine Legitimität verleihen, die er in großen Teilen der Bevölkerung noch nicht genoss. [109]
Tobias Ebbrecht: Jenseits der Grünanlagen. Dokumentarische Arbeiten zu Judentum, Novemberpogrom und Holocaust aus der Schlussphase der DDR. – Zum 50. Jahrestag der Novemberpogrome 1988 veranstaltete die Leipziger Dokumentarwoche 1988 ein Sonderprogramm mit Filmen zur Erinnerung an den Holocaust. In dem Kompilationsfilm Jeder konnte es sehen rekonstruiert Karl Gass die Pogromnacht anhand von Archivmaterial. Walter Heynowski und Gerhard Scheumann dokumentieren in Die Lüge und der Tod zwei stumme Kurzfilme, die u.a. die Deportation Stuttgarter Juden 1941 zeigen. Sehr persönlich rekonstruiert die Filmemacherein Róza Berger-Fiedler in Erinnern heißt Leben Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens in der DDR. Diese Filme thematisieren einen in der DDR bisher weitgehend marginalisierten Aspekt der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die Verfolgung und Ermordung der Juden, und verdeutlichen dabei unterschiedliche Tendenzen des dokumentarischen Arbeitens in der späten DDR. [119]
Manfred Lichtenstein (1933-2011) (Ralf Forster) [136]
Michael Elm: Zeugenschaft im Film. Eine erinnerungskulturelle Analyse filmischer Erzählungen des Holocaust. Berlin: Metropol Verlag 2008 (Kerstin Stutterheim) [137]
Sylvie Lindeperg: Nacht und Nebel. Ein Film in der Geschichte. Berlin: Vorwerk 8 2010 (Tobias Ebbrecht) [140]
Christoph Vatter: Gedächtnismedium Film. Holocaust und Kollaboration in deutschen und französischen Spielfilmen seit 1945. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009 (Matthias Steinle) [145]
Jennifer M. Kapczynski: The German Patient. Crisis and Recovery in Postwar Culture. Ann Arbor: The University of Michigan Press 2008 (Lihi Nagler) [147]
Paul Cooke, Marc Silberman (Hg.): Screening War. Perspectives on German Suffering. Rochester, New York: Camden House 2010 (Sonja M. Schultz) [150]
Ulrich Döge: Barbaren mit humanen Zügen. Bilder des Deutschen in Filmen Roberto Rossellinis. Trier: WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier 2009 (Alfons Maria Arns) [153]
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