Barbara Kosta: Willing Seduction. The Blue Angel, Marlene Dietrich, and Mass Culture. New York, Oxford: Berghahn Books 2009 (= Film Europa: German Cinema in an International Context; 8), 195 Seiten, Abb.
ISBN 978-1-84545-572-9, £ 35,00 / $ 60,00
Seit einiger Zeit hat die Beschäftigung mit Marlene Dietrich in den German Studies und der anglo-amerikanischen Filmwissenschaft Konjunktur. Aus unterschiedlichen Perspektiven und in den verschiedensten Kontexten wurde die Schauspielerin in den letzten Jahren in den Blick genommen: Erica Carter hat ihr Nachleben in der NS-Filmkultur verfolgt und zum Angelpunkt einer grundlegenden Neubetrachtung der ästhetischen Prämissen des NS-Films erhoben (Dietrich’s Ghosts: The Sublime and the Beautiful in Third Reich Film, 2004), Catherine Constable an ihr aktuelle Berührungspunkte zwischen Filmtheorie und feministischer Philosophie festgemacht (Thinking in Images: Film Theory, Feminist Philosophy and Marlene Dietrich, 2005). Eine umfassende Annährung an die Konstruktion der (inter-)kulturellen Ikone Marlene Dietrich haben 2007 die Beiträge zu Gerd Gemündens und Mary R. Desjardins’ Sammelband Dietrich Icon unternommen.
Um die übergreifende kulturelle Funktion Marlene Dietrichs geht es auch Barbara Kosta in Willing Seduction. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung ist die These, dass sich durch das Prisma von Der blaue Engel (1930), ihrem bekanntesten deutschen Film und ihrer ersten Zusammenarbeit mit dem Hollywood-Regisseur Josef von Sternberg, zentrale Spannungsmomente der Kultur der Weimarer Republik erschließen lassen. Diese These verfolgt sie auf vier Bedeutungs- und Referenzebenen, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist: Das erste Kapitel schlägt eine allegorische Lesart des Films vor, die das Gegensatzpaar von Hoch- und Massenkultur, das den kulturkritischen Diskurs der Zeit bestimmte, in der Figurenkonstellation zwischen der Tingeltangelsängerin Lola Lola und dem Gymnasial-Professor Rath (Emil Jannings) auf sinnbildliche Weise thematisiert und in mehrerer Hinsicht auf die Massenkultur hin aufgelöst sieht: im Triumph der Verführungskunst der Lola-Lola-Figur Marlene Dietrichs ebenso wie in der Massenwirksamkeit des Films insgesamt gegenüber der Literatur (einschließlich Heinrich Manns Romanvorlage Professor Unrat).
Wie diese doppelte Faszinationskraft ästhetisch umgesetzt wird, ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Die Raum- und Blickkonstruktionen und die vor allem in den Szenen der Bühnenauftritte Lola Lolas performativ und visuell inszenierte Struktur eines masochistischen Begehrens, von dem der Bildungsbürger Rath (wie das zeitgenössische Publikum) zunehmend absorbiert werde, deutet Kosta im Hinblick auf analoge Prozesse der Fetischisierung und des Distanzverlusts in der Weimarer Waren- und Konsumkultur.
Im dritten Kapitel geht es um die Lola-Lola-Figur als paradigmatische Repräsentation eines radikal modernisierten Typus von Weiblichkeit, der in den 1920er Jahren unter dem Schlagwort der „neuen Frau“ sexuelle Autonomie und gesellschaftliches Selbstbewusstsein, Ehe und Berufstätigkeit in sich vereint. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Hinweise Kostas auf einen hinter dem inszenatorischen Feuerwerk des Films lauernden Realismus. Er kommt in jenen Szenen zum Vorschein, in denen auf den (vor-)ehelichen Alltag des ungleichen Paares mit seinen Routinen und Abhängigkeiten angespielt wird.
Das vierte Kapitel widmet sich der Tongestaltung des Films und hier insbesondere der Gegenüberstellung der mit den beiden Hauptfiguren verbundenen Liedtexte und musikalischen Motive. In ihnen findet sich, wie Kosta herausarbeitet, der Gegensatz zwischen Hoch- und Massenkultur als schroffe Gegenüberstellung von älteren Volksliedtraditionen des 19. Jahrhunderts, die mit Rath assoziiert sind, und der von Lola Lola vertretenen Kultur und Weltanschauung des modernen Schlagers wieder.
Einige Teile des Buches können sich auf konkrete Vorarbeiten stützen, so das zweite Kapitel auf den theoretischen Ansatz Gaylyn Studlars an die Hollywood-Filme von Sternbergs und Dietrichs (In the Realm of Pleasure. Von Sternberg, Dietrich and the Masochistic Aesthetic, 1988) und das vierte Kapitel auf die Diskussion des verwendeten musikalischen Materials in Siegbert Salomon Prawers BFI-Classic-Band The Blue Angel (2002). Nicht nur hier ist das Bemühen zu bemerken, angesichts der bereits breit vorhandenen Forschung zu Dietrich, von Sternberg und Der blaue Engel aus der ausführlichen Auseinandersetzung mit der existierenden Literatur neue Deutungsansätze zu destillieren. Dies gelingt der Autorin zum einen grundsätzlich dadurch, dass sie die historische Kontextualisierung vieler an sich bekannter Aspekte des Films konsequent vertiefen kann; zum anderen punktuell in einer Reihe origineller Einzelbeobachtungen, die am Film selbst vorgenommen werden (etwa mit Blick auf die Entwicklung der vielschichtigen Vogel-Motivik). Dennoch können, abgesehen von einzelnen Nuancierungen und dem Nachweis einer Fülle relevanten Kontextmaterials, nur wenige Ergebnisse der vier unmittelbar mit dem Film befassten Kapitel unterm Strich wirklich überraschen.
Dies gilt jedoch nicht für das fünfte und letzte Kapitel des Buches, das sich mit dem Nachleben Marlene Dietrichs im wiedervereinigten Deutschland befasst und insofern tatsächlich Neuland betritt. Angefangen mit der Überführung und Bestattung der sterblichen Überreste der Diva nach Berlin-Friedenau 1992 und dem Ankauf des Nachlasses durch den Berliner Senat im Jahr darauf, über Volker Kühns Produktion von Pam Gems Theaterstück Marlene 1998 und Joseph Vilsmaiers Film gleichen Titels aus dem Jahr 2000 bis hin ur postumen Zuerkennung der Ehrenbürgerschaft Berlins und der Einweihung des Marlene-Dietrich-Platzes 2002 zeichnet Kosta die Strategie einer konsequenten kulturpolitischen Inanspruchnahme der Schauspielerin nach, die nicht nur dem Berlin-Tourismus diente, sondern einem neuen Selbstverständnis der „Berliner Republik“ als sich seiner Geschichte bewusster, weltoffener Gesellschaft zugute kommen sollte: „Her image, a well-tended illusion, is used to restore a sense of national cohesion to a post-unified Germany. She is a manifestation of a Germany that can be admired and adored and that is both national and international.“ (S. 155) Dass sich auch die Renaissance des Forschungsgegenstands „Marlene Dietrich“ in der angloamerikanischen Germanistik und Filmwissenschaft als Sekundäreffekt dieser kulturellen Vereinnahmung (die ja zugleich auch die Sicherung und Bereitstellung zentraler Quellenbestände durch das Filmmuseum Berlin beinhaltet) begreifen und somit reflexiv auf Kostas eigenes Buch wenden lässt, ist ein Gedanke, zu dem die abschließende kritische Würdigung der jüngeren Wirkungsgeschichte den Leser zumindest einlädt.(Michael Wedel)
Michael Wedel ist Professor für Mediengeschichte an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Mitglied von CineGraph-Babelsberg und Redakteur von Filmblatt. Demnächst erscheint Filmgeschichte als Krisengeschichte. Schnitte und Spuren durch den deutschen Film (Bielefeld 2010).
Filmblatt 43 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 3.11.2010
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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