Tobias Nagl: Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino. München: edition text + kritik 2009, 827 Seiten, Abb.
ISBN 978-3-88377-910-2, € 49,00
Mit seiner monumentalen Studie Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino verlagert Tobias Nagl einmal mehr den Fokus weg vom Kanon hin zu einem bislang zu wenig beachteten, sehr heterogenen Korpus von Reise-, Abenteuer-, Dokumentar- und Propagandafilmen aus den Jahren 1914 bis 1933. Nagl, der damit u.a. an den von Jörg Schöning herausgegebenen Sammelband Triviale Tropen (1997), das KINtop-Buch Grüße aus Viktoria. Film-Ansichten aus der Ferne (2002) und Wolfgang Kabateks Monografie Imagerie des Anderen im Weimarer Kino (2003) anknüpft, geht es um die „weißen Flecken“ (S. 31) der Filmgeschichtsschreibung, nämlich um jene Darsteller, die sonst als „Fußnote der Geschichte“ gelten: die nicht-weißen Darsteller, die „Anderen“, die ungeachtet ihrer eigentlichen Herkunft in der „Traumfabrik“ stets koloniale Subjekte spielen mussten. Indem Nagl den nicht zu unterschätzenden Einfluss des Kolonialismus auf die Entwicklung der Kinematographie auch in Deutschland nachweist, erschließt er der Forschung neues Terrain und stößt einen Dialog an zwischen postkolonialer Kritik, Rassismustheorie und Filmwissenschaft. Es gelingt ihm dabei, die recht unterschiedlichen Merkmale der deutschsprachigen und der englischsprachigen Forschungskultur vorbildlich zu verbinden: Das betrifft die intime, auf breite Archivrecherchen gestützte Kenntnis der deutschen Filmgeschichte einerseits und die Kenntnis der komplexen britischen und nordamerikanischen Theorien über Rassismus und Postkolonialismus andererseits. Nagls Studie stellt daher auch eine große Übersetzungs- und Integrationsleistung dar – hinweg über Sprachenbarrieren, Diskurse, Konzepte und Geschichten. Einer deutschsprachigen Leserschaft führt Nagl einen Forschungsansatz vor, der den Fallstricken des Eurozentrismus entgeht und es ermöglicht, ein Filmkorpus, dessen historischer Ort zwischen dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft und dem Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft anzusiedeln ist, genauer zu verstehen.
Der Umfang von Nagls Recherchen und die argumentative Kraft seiner Analysen zeigen sich exemplarisch im ersten von sieben ausführlichen und ausgesprochen gut lesbaren Kapiteln. Nagl präsentiert darin eng am Filmtext erarbeitete Analysen des Orientalismus in Joe Mays Siebenteiler DIE HERRIN DER WELT (1919/20) und Edmund Heubergers DIE SONNE ASIENS (1920). Er berücksichtigt die zeitgenössischen sozialen und historischen Diskurse, untersucht die Produktionsumstände und gräbt Informationen über Schauspieler in Schlüsselrollen aus, etwa den damals in Berlin lebenden Chinesen Nien Sön Ling. Die Rezeption von DIE HERRIN DER WELT erläutert Nagl zugleich aus der Sicht der deutschen Presse und der Sicht in Berlin ansässiger Chinesen, die erfolgreich gegen die verfälschende Darstellung ihrer Kultur protestierten und damit den frühen Beweis einer postkolonialen Eigenwahrnehmung in West-Europa erbrachten. Im Ausland, etwa auf dem amerikanischen Markt, stieß der deutsche Filmorientalismus offenbar trotz der ähnlichen Stereotypisierung anderer Kulturen nicht durchweg auf positive Resonanz. Vorgeworfen wurde Mays Film, wie auch den meisten anderen deutschen Produktionen, sein episches Ausmaß, sein fehlender Wille zur Konzentration auf die reine Handlung und der Mangel an glamourösen weiblichen Stars.
Im zweiten Kapitel untersucht Nagl anhand des Konzepts der „Whiteness“, des „Weißseins“, Filme aus den frühen 1920er Jahren, die sich an der Rekonstruktion einer deutschen nationalen Identität beteiligten: Am Beispiel von Carl Boeses Propagandafilm DIE SCHWARZE SCHMACH (1921), der im Kontext der französischen Rheinland-Besetzung entstand and als Beitrag zu einem „nationalen Kino“ aufgefasst wurde, führt er vor Augen, wie das besetzte Deutschland als eine feminisierte, von schwarzen, stark sexualisierten ausländischen Männern bedrohte Nation dargestellt wurde. Da der Film selbst verschollen ist, entwickelt Nagl seine Diskursanalyse anhand visueller und schriftlicher Dokumente, die zur Rheinlandbesatzung Stellung nahmen (Plakate, Briefmarken, Münzen, Pamphlete), sowie des Drehbuches und Quellen zur Produktions- und Rezeptionsgeschichte. Zusammen mit DIE SCHWARZE PEST (1921) bettet Nagl den Film in einen transnationalen Kontext ein: Schließlich fand in Amerika zur gleichen Zeit eine Politisierung schwarzer Einwohner statt, die nach ihrer Gleichberechtigung strebten. So ist denn der negrophobe Roman von Guido Kreutzer wie auch seine filmische Umsetzung als deutsches Analogon zu D.W. Griffiths berüchtigtem BIRTH OF A NATION (1915) zu verstehen. DIE SCHWARZE SCHMACH erscheint sowohl als Versuch, die weiße Hegemonie nicht nur in Deutschland aufrechtzuerhalten, wie als Zeugnis dafür, dass sich Deutschland nach dem Verlust der Kolonien als ein entmachtetes Volk verstand, für das sich mit der Wiedergewinnung kolonialer Macht auch die Erwartung einer Wiederauferstehung verband.
Weitere Kapitel befassen sich mit kolonialen Propagandafilmen, der Beziehung zwischen dem Kulturfilmgenre und den Ausformungen einer romantischen Ethnografie sowie mit Kolonialspielfilmen, die in Afrika angesiedelt sind. Deutlich wird hier, dass die deutschen Kolonien neuerlich eine starke Relevanz als nationale Bindemasse erhielten, nachdem sie bereits an die anderen westlichen Kolonialmächte verloren gegangen waren. Anlehnend an Siegmund Freuds Begriff der Melancholie, vertritt Nagl die These, dass die Weimarer Kolonialbewegung von einer Unfähigkeit geprägt gewesen sei, das „verlorene Objekt“ aufzugeben; stattdessen sei von zahlreichen Vereinen und Verbänden eine Form von „kolonialem Revisionismus“ gepflegt worden. Die Rheinlandbesetzung trug in diesem Zusammenhang zu einem Mentalitätswandel bei: Eine ehemalige Kolonialmacht empfand sich nun selbst als ein kolonisiertes Land. Die von Hans Schomburgk gegründete koloniale Filmgesellschaft sollte daher Spielfilme herstellen, die zeigten, wie die Deutschen in den Kolonien gelebt hatten und wie sie es auch zukünftig wieder tun könnten, wenn sie die Kolonien wiedererwerben würden. Um Schomburgks umfangreiches Filmschaffen in seiner historischen und diskursiven Bedeutung zu erhellen, greift Nagl Theorien auf, darunter Homi Bhabhas Idee einer kolonialen Mimikry, Richard Dyers Überlegungen zur „Whiteness“, Renato Rosaldos Konzept einer imperialistischen Nostalgie, Fatimah Tobing Ronys Begriff einer taxidermischen, der Tierpräparation gleichenden Behandlung der Eingeborenen und Johannes Fabians Thesen über Zeit und kulturelle Differenz.
Nagls Untersuchungen zeichnen sich nicht nur dadurch aus, dass sie sich mit bisher wenig erforschten Filmen auseinandersetzen und daraus wichtige Erkenntnisse für die deutsche Sozialgeschichte ziehen. Vielmehr geht Nagl auch breit auf die Rezeptionsgeschichten der Filme und ihre zeitgenössische Wahrnehmung und Bewertung ein. Am Beispiel von ICH HATT’ EINEN KAMERADEN (1926) zeichnet er etwa die Verherrlichung vom weißem Soldatentum im Kontext der Reichskolonialwoche in Hamburg nach: Der Film wird nun verständlich als ein Beitrag zu einem multimedialen Spektakel, das den feierlichen Umzug ehemaliger Kolonialsoldaten und als „Eingeborene“ verkleideter Anhänger der Kolonialbewegung mit einschloss; finanziell unterstützt wurde dieses Spektakel von regionalen Firmen, die mit Kaffeebohnen, Kakao und Zucker aus den ehemaligen Kolonien handelten.
Anhand der Kulturfilme von Hans Cürlis, Colin Ross und anderen erläutert Nagl die Etablierung eines ethnographischen Blicks sowie die Diskurse über Rasse, Primitivismus, Exotik und Erotik. Geschlecht und Rasse definieren sich gegenseitig, wenn der Kamera-Apparat seinen herrschenden, „weißen“ Blick auf die afrikanische Bevölkerung richtet, die hier nur als koloniale Arbeitskraft oder kindlich-weibliches Subjekt aufgefasst wird. Aufschlussreich ist dabei, dass die Kategorie der Mulattin und die Sorge um die Rassenmischung, die auch in der frühen amerikanischen Literatur weit verbreitet war, in den deutschen kolonialen Spielfilmen eine Entsprechung fand. Bei seiner Untersuchung von Filmrollen, die im Weimarer Kino mit schwarzen Frauen wie der in Südafrika geborenen Schauspielerin Madge Jackson besetzt wurden, verweist Nagl deshalb auch auf kritische Stimmen in der amerikanischen Literatur: Sie betonen die schwierige Stellung der schwarzen Frau, die auf doppelte Weise ausgeschlossen wird, weil sie weder ein Mann ist noch weiß.
Die letzten beiden Kapitel nehmen mehrere schwarze Darsteller in den Blick, die in der Weimarer Republik und im „Dritten Reich“ als Schauspieler, Musiker oder Artisten Beschäftigung fanden. Anknüpfend an die Arbeiten afrodeutscher Forscher wie Katharina Oguntoye und May Ayim rekonstruiert Nagl – etwa am Beispiel von Louis Brody – die Rolle postkolonialer Persönlichkeiten im deutschen Kulturbetrieb, deren Präsenz über die Bildung von Stereotypen hinaus bedeutend ist. Tatsächlich sind diese Persönlichkeiten lebender Ausdruck von kultureller Differenz. Sie sind widerständige Akteure und ihre Biografien symptomatisch für tiefgreifende Veränderungen im gesellschaftlichen Diskurs. Nagl liefert damit über die filmhistorische Forschung hinaus auch einen substanziellen Beitrag zur Forschung über schwarze Europäer, den Black European Studies.
Mit Die unheimliche Maschinehat Tobias Nagl ein Meisterwerk der Quellenforschung verfasst und zudem ein Buch, das sich über seine epische Länge einen sozial und intellektuell engagierten Tonfall bewahrt. Seine Pionierstudie, die 2009 mit dem Willy-Haas-Preis ausgezeichnet wurde, spricht Leser in den verschiedensten Disziplinen an und wird zukünftige Recherchen stimulieren und weit nach vorne bringen, nicht zuletzt durch seine baldige Übersetzung ins Englische. (Angelica Fenner)
Angelica Fenner ist Associate Professor für German Studies und Filmwissenschaft an der University of Toronto. Sie hat u.a. Aufsätze veröffentlicht zum Dokumentarfilm und zur Migration im europäischen Film. Demnächst erscheint ihre Monografie Race under Reconstruction in German Cinema: Robert Stemmle’s Toxi (Toronto 2011). Zur Zeit arbeitet sie an einem Buch über aktuelle autobiografische Dokumentarfilme aus Deutschland.
Filmblatt 43 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 3.11.2010
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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