Wolfgang Struck: Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen: V&R unipress 2010, 345 Seiten.
ISBN 978-3-89971-769-3, € 49,90
Was hat es mit dem Boom der Kino- und Fernsehfilme in den letzten Jahre auf sich, die auf dem „Sehnsuchtskontinent Afrika“ (S. 273) angesiedelt sind? Von Caroline Links Oscar-gekröntem NIRGENDWO IN AFRIKA (2001) zu Klaus Räfles ZDF-Miniserie AFRIKA, MON AMOUR (2007) werden da mit großem Aufwand Geschichten inszeniert, die historische Authentizität und spannende Abenteuer versprechen. Den in Afrika wirklich lebenden Menschen jedoch begegnet der Zuschauer nicht, und ein lernender Austausch zwischen den Subjekten findet meist nicht statt. Ebenso wenig werden die Nachwirkungen der deutschen Kolonialherrschaft mitreflektiert. Letztlich geht es immer wieder um die Selbstvergewisserung und Identitätsfindung der Deutschen.
Mit Die Eroberung der Phantasie unternimmt Wolfgang Struck den ehrgeizigen Versuch, dieses allseits verbreitete und weitgehend unbewusste Sich-Abschotten gegen eine tatsächliche Begegnung mit dem Fremden und Anderen historisch und kulturell in seinen Anfängen zu verorten und zu bestimmen. In der Einleitung schlägt er daher einen Bogen von den Eroberungsfantasien des Kolonialpioniers Carl Peters (1856-1918), der für seine Brutalität im Umgang mit den „Eingeborenen“ berüchtigt war, zu einem Epilog über die oft naiv-dümmlichen Unterhaltungsfilme von heute. Den breitesten Raum nehmen drei Kapitel zu kolonialliterarischen Texten aus dem Zeitraum 1880 bis 1930 ein. Ein Kapitel schließlich behandelt exotistische Spielfilme und nicht-fiktionale Filme desselben Zeitraums aus der anhand der literarischen Zeugnisse gewonnenen Perspektive. Nicht so sehr in den kritischen Ergebnissen, sondern in dem deutlichen Akzent auf literarischen bzw. textlichen Befunden liegt im übrigen eine Differenz zwischen Strucks Arbeit und der stärker filmhistorisch und an soziokulturellen Gegenwartskontexten interessierten „Parallelstudie“ von Tobias Nagl, Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino (2009).
In spiralförmigen, vielschichtig vernetzten Reflexionsbewegungen zeichnet Struck die Zusammenhänge der im Buchtitel angesprochenen Kernbegriffe „Eroberung“ und „Phantasie“ nach. Die Narrativierung kolonialer Erfahrung (ob erlebt oder erfunden) vollzieht sich meist innerhalb von sich wechselseitig bestärkenden Schaltkreisen, welche ein imaginäres „Wissen“ schaffen, das wiederum den Blick auf das Fremde und Andere von vornherein verstellt und in Machtvorstellungen verzerrt: „Phantasien der Eroberung implizieren die Eroberung der Phantasie“ (S. 45). Dieser Mechanismus findet sich in der viel gelesenen populären Kolonialliteratur ausformuliert (u. a. bei Wilhelm Jensen, Gustav Frenssen, Frieda von Bülow, Ada Cramer, Arthur Heye, Jürgen Jürgensen, Karl Tanera, Hans Grimm). Mitunter werden die darin präsentierten Vorstellungen in Texten der sich „primitivistisch“ begeisternden literarischen Avantgarde (Carl Einstein, Carl Sternheim, Gottfried Benn) kritisch reflektiert. Sich völlig von den aufgezeichneten Mustern zu lösen, gelingt diesen Avantgardisten genauso wenig wie jenen hybriden Texten, in denen sich triviale und avantgardistische Elemente vermischen und für die Claire Golls Gedichtsammlung Lyrische Films (1922) und ihr Roman Der Neger Jupiter raubt Europa (1926) Beispiele sind.
In den nicht-fiktionalen Stummfilmen der Zeit (von selbsternannten Afrika-„Forschern“ wie Hans Schomburgk verfertigt) lassen sich die Widersprüche zwischen Machtanspruch und Verachtung, Faszination und Ablehnung gegenüber dem Fremden ablesen. Darüber hinaus zeigt Struck an mehreren repräsentativen und immens populären exotistischen, fiktionalen Stummfilmen Ängste der Möchte-gern-Kolonial-„Herren“ angesichts einer vermeintlichen Bedrohung der „Metropole“ durch die koloniale „Peripherie“ auf. Sie stellen das martialische Gehabe der zeitgleich florierenden revisionistischen Kolonialliteratur in gewisser Weise in Frage. Struck geht hier etwa der „Inszenierung ambivalenter Phantasien von Selbstverlust und Allmacht“ (S. 228) in Joe Mays achtteiliger Abenteuerserie DIE HERRIN DER WELT (1919/20) nach und kontrastiert Karl Figdors Romanvorlage mit der Filmversion. Außerdem vergleicht er Thea von Harbous Drehbuch zu DAS INDISCHE GRABMAL (1921) mit der ebenfalls von May realisierten Verfilmung sowie Margarethe Böhmes Sittenroman Dida Ibsens Geschichte (1907), der das Phänomen des „Tropenkollers“ behandelt, mit dessen Verfilmung durch Richard Oswald aus dem Jahr 1918. Anhand dieser Vergleiche verdeutlicht Struck die Ambivalenz der gezeigten filmischen Bilder, in denen gelegentlich durch ein „Auseinanderdriften von Bildern und Geschichte” (S. 268) sogar so etwas wie ein kritisches postkoloniales Bewusstsein aufscheint – die Bilder zeigen demnach oft etwas anderes als die Zwischentitel und Handlungen behaupten. Ähnliches gilt für Wolfgang Hoffmann-Harnischs Abenteuerdrama DIE FRAUENGASSE VON ALGIER (1926/27): Auch wenn der Film „von der Unüberschreitbarkeit der Grenzen zu erzählen scheint, zeigt er […] das Gegenteil“ (S. 234).
Strucks Studie basiert auf einer eingehenden Auseinandersetzung mit jüngeren Konzepten, die vor allem aus der anglo-amerikanischen Germanistik, Filmtheorie und postkolonialen Theoriebildung abgeleitet sind. In beeindruckender Weise zeigt Struck auf, wie sehr „jenes phantasmagorische Gebilde, das der Kolonialismus (sich) konstruiert“ (S. 282), bis heute in deutschen Köpfen spukt. Weitgehend jargonfrei geschrieben, sachkundig argumentiert und gewissenhaft belegt, bietet das Buch einen wertvollen Beitrag zur Erkundung der verbleibenden blinden Flecke im historischen und kulturellen Bewusstsein der Deutschen. (Christian Rogowski)
Christian Rogowski ist Professor of German am Amherst College in Massachusetts (USA) und publiziert zur deutschsprachigen Literatur, zum Drama, zur Oper und zum Film. Gegenwärtig forscht er über Kino und Populärkultur der Weimarer Republik unter dem Aspekt von Rasse und Identität. Herausgeber von The Many Faces of Weimar Cinema. Rediscovering Germany’s Filmic Legacy (Rochester, New York 2010).
Filmblatt 43 – Besprechungen online
Veröffentlicht am 3.11.2010
Redaktion: Ralf Forster, Michael Grisko, Philipp Stiasny, Michael Wedel
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