Berlin ist nicht Wien, und Berlin ist auch nicht Zürich. Das muss man nicht bedauern, obwohl es gelegentlich Anlass dazu gibt. So lief 2005 sowohl in der Hauptstadt Österreichs wie in jener der Schweiz eine große Filmretrospektive zu Ehren von Richard Oswald, dem Wiener Autor, Regisseur und Produzenten, der in Berlin zwischen 1914 und seiner erzwungenen Emigration im Jahr 1933 zu den umtriebigsten, populärsten und erfolgreichsten Persönlichkeiten des deutschen Filmschaffens gehörte. Ausgerechnet in Berlin aber war die Retrospektive nicht zu sehen.
Nicht nur deswegen eröffnen wir diese Ausgabe mit einem kurzen, aber engagierten Plädoyer für die Schaffung eines Archivkinos. Unsere Filmreihen sind hierfür nur ein kleiner Ersatz: dies gilt auch für jene vier Oswald-Filme, die wir im vergangenen Jahr in unserer Reihe Wiederentdeckt im Zeughauskino vorgestellt haben.
Richard Oswald (1880-1963) ist eher berüchtigt als berühmt für seine Sitten- und Aufklärungsfilme, die er Ende der 10er Jahre drehte. Im Gegensatz dazu präsentieren die Werke, die im Mittelpunkt dieses Filmblatts stehen, eine wichtige, aber in der Forschung oft vernachlässigte Facette seines Oeuvres: die Komödie in ihren verschiedenen Spielarten.
Jürgen Kasten stellt mit DIE LIEBSCHAFTEN DES HEKTOR DALMORE (1921) eine erotische Gesellschaftskomödie vor, Michael Wedel mit IM WEISSEN RÖSSL (1926) einen Schwank und Jeanpaul Goergen mit WIEN, DU STADT DER LIEDER (1930) ein Singspiel, das die Möglichkeiten des frühen Tonfilms ausprobierte. Philipp Stiasny wiederum untersucht am Beispiel von 1914 – DIE LETZTEN TAGE VOR DEM WELTBRAND (1930) eine von Oswald ebenfalls häufiger bediente Sparte: den politisch aufgeladenen, zeitnahen Film. Gemeinsam erschließen die vier Fallstudien unbekannte Bereiche von Oswalds Werkbiografie sowie ästhetische, filmtechnische und rezeptionsgeschichtliche Aspekte seines Schaffens.
Diese Spurensuche hat im Filmblatt Tradition, wie zwei Aufsätze zu Oswald-Filmen in früheren Ausgaben zeigen: Anna Bohn schrieb in Nr. 24 über den Musikfilm EIN LIED GEHT UM DIE WELT (1933) und Philipp Stiasny in Nr. 30 über das Weltkriegsmelodram DOKTOR BESSELS VERWANDLUNG (1927).
Die Auseinandersetzung mit den Filmen von Richard Oswald lohnt sich, weil sie zu einem genaueren Verständnis der populären Kultur der Weimarer Republik beiträgt. Denn hier verschränken sich Politik und Zeitgefühl, Unterhaltung und Information, Kultur und Kommerz. Oswald machte Publikumsfilme mit mittlerem Budget. Er war der geradezu prototypische Vertreter des schnelllebigen Mainstreamkinos, das dabei älteren Konventionen und Genres verhaftet blieb.
Das Interesse der Forschung für das populäre Kino als zeitgenössisches Pendant zum künstlerisch avancierten Kanon zu wecken, ist ein Anliegen, das CineGraph Babelsberg stetig verfolgt. In einem weiteren Zusammenhang betrachtet, wird erkennbar, dass Oswalds Genrekino beispielsweise verwandt ist mit jenem von Carl Froelich (1875-1953) und Carl Boese (1887-1958). Immer wieder standen in den vergangenen Jahren bei uns Filme dieser beiden aus Berlin stammenden, äußerst produktiven Regisseure und Produzenten auf dem Programm. Die Untersuchungen zu Werken wie IKARUS (1919) und GITTA ENTDECKT IHR HERZ (1932) von Carl Froelich (in Filmblatt Nr. 26) und DIE ELF TEUFEL (1927), GROCK (1931), PAPRIKA (1932), GRUß UND KUSS – VERONIKA (1933) und GRETEL ZIEHT DAS GROßE LOS (1933) von Carl Boese (in Filmblatt Nr. 28, Nr. 31, Nr. 33) verdeutlichen, wie überraschend vielfältig die Inhalte und Formen der populären Kinos waren und wie hoch zugleich der Nachholbedarf der Forschung in diesem Bereich noch ist.
Einen weiteren Schritt zur Erforschung des deutschen Genrefilms macht Michael Wedel mit seiner Monografie zu Richard Eichberg (1888-1953), die parallel zu diesem Filmblatt in unserer Reihe Filmblatt-Schriften erscheint. Wie der Wiener Oswald gehört auch der Berliner Eichberg zu den herausragenden Regisseuren und Produzenten des Weimarer Kinos. Während aber Oswald wegen seiner jüdischen Herkunft 1933 aus Deutschland fliehen musste, konnte Eichberg – wie auch Froelich und Boese – im „Dritten Reich“ seine Karriere fortsetzen. Seinem Schaffen widmen wir im Zeughauskino im Juli 2007 eine Retrospektive. Gemeinsam gilt für die Werke aller dieser Publikumsregisseure, dass sie zumeist in den Genres der leichten Unterhaltung arbeiteten: Sie drehten Liebeskomödien, Musik- und Abenteuerfilme ohne große künstlerischere Ansprüche, die gerade deshalb so lebendige, historisch bedeutsame Zeugnisse einer vergangenen Unterhaltungskultur darstellen.
Das neue Filmblatt enthält neben den Aufsätzen zu Oswald zwei weitere gewichtige Studien: Michael Wedel untersucht mit Wilhelm Thieles LIEBESWALZER (1930) die Keimzelle der Ufa-Tonfilmoperette, wobei wiederum unerwartete Bezüge zu Oswalds IM WEIßEN RÖßL zum Vorschein kommen.
Tobias Ebbrecht widmet sich dagegen dem antikommunistischen Dokumentarfilm KREUZZUG DER FREIHEIT (1951) von Johannes Häußler. Ebbrecht, der hier erste Ergebnisse einer breit angelegten Arbeit über Häußler vorlegt, rückt einen Filmemacher ins Licht, dessen politisch-propagandistisches Werk in starkem Kontrast zu dem der Publikumsregisseure steht. Während Richard Oswalds Biografie heute auch für den epochalen kulturhistorischen Bruch des 20. Jahrhunderts steht, scheinen im Fall von Häußler gerade jene zeitgeschichtlichen Kontinuitäten auf, die den deutschen Film nicht weniger geprägt haben.
Berlin, den 2. Juli 2007